Der Neubau der Industrie- und Handelskammer Stuttgart von Wulf Architekten präsentiert sich als moderner Nachkömmling der Nachkriegsbebauung. An diesem Mittwoch wird er eingeweiht, und das Beispiel könnte in der Jägerstraße Schule machen.

Stuttgart -

 

Deutschlandweit ist die IHK Stuttgart wahrscheinlich die einzige unter ihresgleichen, die bei Veranstaltungen ihren eigenen Wein ausschenken kann: Kriegsberger Trollinger, angebaut direkt hinterm Haus. Diese Besonderheit der Lage war entwurfsbestimmend für den Neubau der Industrie- und Handelskammer, der an gleicher Stelle steht wie der abgebrochene Vorgängerbau von Rolf Gutbier und Rolf Gutbrod aus den fünfziger Jahren. Alles an dem neuen Gebäude des Stuttgarter Büros Wulf Architekten orientiert sich an dem steil aufsteigenden Weinberg und der Situierung der IHK-Zentrale im Stadtgefüge.

Grundlegend für Tobias Wulf, den Zweitplatzierten im Wettbewerb von 2009, der dann vom Bauherrn den Zuschlag erhielt, war ein doppelter Gedanke: zum einen die Wiederherstellung des Straßenraums der Jägerstraße und zum andern die Inszenierung des Weinbergs durch das Öffnen der Blickachse hinauf zu dem hoch über der IHK schwebenden Weinberghäuschen als arkadischem Point de vue mitten in der Stadt.

Erst Villen, nach dem Krieg dann Bürohäuser

Vor 1945 hatte sich am Südhang des Kriegsbergs ein Villenviertel erstreckt, dem in den Wiederaufbaujahren Bürohäuser folgten. Anders als die Wohnbauten der Vorkriegszeit standen und stehen diese jedoch senkrecht zum Hang, wie bis heute an den Nachbargebäuden der IHK zu sehen. Das hatte zwar den Vorteil, dass die mehrgeschossigen Baukörper das Landschaftsbild nicht verdeckten.

Erkauft wurde er allerdings mit dem Nachteil, dass das Straßenbild löchrig wirkt und die Zwischenräume im Lauf der Zeit durch allerlei improvisierte Anbauten zugemüllt wurden. Auch hatte die Architektur so keinen Blick für den singulären Standort. Die Häuser wurden mit der Schmalseite in den Hang geschoben, aus den Fenstern guckten die Angestellten weder auf den Weinberg noch auf die Stadt, sondern – drittbeste Aussicht – auf die Verwaltungsgebäude nebenan.

Die Ausblicke begeistern

Der IHK-Neubau feiert seine Umgebung nun geradezu mit großzügigen Ausblicken auf die Rebstöcke und das im Wechsel der Jahreszeiten sich färbende Laub. Zum Kriegsberg ist der Baukörper u-förmig eingeschnitten und lässt Platz für eine Terrasse direkt zu Füßen des Hangs. Die Weinbergmauern aus Buntsandstein wurden, wo sie dem Altbau hatten weichen müssen, sorgfältig wiederhergestellt, wobei der Sandstein den Bau jetzt zu beiden Seiten bis hinab auf die Straße einfasst.

Topografische Analogien dann auch in der inneren Raumorganisation: Das weitläufige Foyer mit Empfangsbereich und Veranstaltungssaal steigt terrassenförmig auf eine Galerie an. Kaum drinnen hat man wieder das Außen vor Augen. Auch der Materialkanon bleibt bei der Weinthematik: ein heller Muschelkalkboden – der gleiche Stein, der in Form von Lisenen auch die Fassade rhythmisiert –, feingemaserte Wandvertäfelungen aus amerikanischem Tannenholz und Eichenholzparkett in den oberen Geschossen. Viel naturfarbene Gediegenheit, die leicht ins Eintönige abgleiten könnte, würden nicht die bunten Streifen des Leitsystems aus dem Grafikdesign-Atelier Uebele sie davor bewahren.

Mit ihrer zurückhaltenden Formen- und Materialsprache, der gerasterten Gebäudehülle und dem kubischen Volumen wirkt die IHK wie ein moderner Nachkömmling der Nachkriegsbebauung, die allmählich aus dem Stuttgarter Stadtbild verschwindet. So ist auch das Schicksal des benachbarten Volkartbaus, mit seinem geschwungenen Flugdach ein typischer Vertreter der Wirtschaftswunderarchitektur, besiegelt. Die Industrie- und Handelskammer hat beschlossen, ihn an die Deutsche Bahn zu verkaufen. Damit steht der Abriss fest. Das banale LBS-Gebäude auf der anderen Seite dagegen bleibt – soll man sagen: natürlich? – stehen.

Ein Beispiel, das Schule macht?

Der Neukonzeption einer klassischen Randbebauung gehorchend, lagert die IHK breiter an der Straße als die älteren Häuser. Ob ihr Beispiel Schule macht, ob es also gelingt, die Jägerstraße auf Dauer städtebaulich „umzudrehen“, wird die Zukunft zeigen. Uneingelöst bleibt die Hoffnung des Architekten, den Straßenraum und das Foyer durch ein transparentes Foyer miteinander zu verzahnen, denn Glas, das erweist sich auch hier wieder, ist bei Tageslicht nun einmal nicht durchsichtig. Der zurückgesetzte, spiegelnde Sockel wirkt von außen betrachtet einfallslos und flächig, fast als verließe den feingegliederten Baukörper nach unten hin die Kraft.

Wünschen würde man sich mit Tobias Wulf, dass die grüne Sichtachse zwischen IHK und Volkartbau, die den Blick auf die in schnurgerader Linie vom Weinberghäuschen bis zum Hangfuß verlaufende Staffel freigibt, eines Tages bis zum Bahnhof reichen könnte. Die Trafostation, die momentan noch im Weg ist, wird irgendwann sicher verschwinden.

Von dem Bürohaus, das sich neuerdings an der Ecke Friedrich-/Kriegsbergstraße erhebt, steht das leider nicht zu erwarten. In der Diskussion über die zahlreichen Neubauprojekte in der Stadt Stuttgart ist diesem maßstabsprengenden Ungetüm bisher kaum Beachtung geschenkt worden. Neben allem, was sonst gerade so schief läuft, ist Stuttgart mit solchen Projekten auch noch dabei, die Vorzüge seiner Topografie zu vergeigen. Als käme es darauf jetzt auch nicht mehr an.