Die schottische Künstlerin zerschneidet Leinwände und Bücher. Was dabei herauskommt, zeigt eine neue Ausstellung im Ludwigsburger Kunstverein.

Ludwigsburg - Der italienische Avantgardist Lucio Fontana wurde Mitte des 20. Jahrhunderts berühmt, weil er als erster seine Leinwände aufgeschlitzt hat. Mit seiner Concetto spaziale (Raumkonzept) genannten Erfindung wollte er der Kunst neue Dimensionen eröffnen. Ähnlich lautet auch das künstlerische Credo von Georgia Russell. Auch sie möchte in die dritte Dimension vorstoßen. Allerdings belässt sie es nicht bei ein paar Schnitten in einer ansonsten planen Leinwand. Sie traktiert das Material so lange, bis alles nur noch in Streifen herunter hängt.

 

3,5 auf vier Meter misst das größte Werk der Schau

Die schottische Künstlerin, deren Werke zurzeit unter dem Titel „The Open Window“ im Ludwigsburger Kunstverein zu sehen sind, lehnt den Gebrauch von Scheren oder Haushaltsmessern ab. Das Skalpell ist das Instrument ihrer Wahl. „Das ist wirklich scharf“, sagt sie. Und es habe mit der Welt der Medizin zu tun.

Die Künstlerin als Chirurgin also? Mit Blick auf die feinen Strukturen, die sie entwirft, scheint das nicht so weit hergeholt. Ein Werk von Russell ist nicht nur eine Beleg für eine enorme Fleißarbeit, es zeugt auch von großer Präzision. Mit der größten Arbeit in der Ludwigsburger Schau – dem 3,50 auf 4 Meter große „Escarpment“ genannten Objekt – sei sie einen Monat lang beschäftigt gewesen, sagt Russell. Es besteht aus zwei Leinwänden, die sie jeweils auf Vorder- und Rückseite bemalt hat, bevor sie zum Skalpell gegriffen hat. Dadurch, dass sie die zwei Projektionsflächen dicht hintereinander gehängt hat, entsteht ein Stereoeffekt ähnlich dem von 3-D-Fotos.

Scheinbar in Bewegung gesetzt aber wird das Ganze durch die vielen feinen Schnitte, die die 1974 im schottischen Elgin geborene Künstlerin dem Material zugefügt hat: Der Eindruck ist der von einem Fließen und Flirren. Der Betrachter glaubt, eine bergige Landschaft zu sehen, über die ein Wind hinwegzieht. Anders als Lucio Fontana, der mit seiner Schneidetechnik nur immer weitere abstrakte Räume erschlossen hat, nähert sich Russell, die sehr viel beherzter in die Leinwand ritzt, wieder dem gegenständlichen Bild an.

Bibel wird zu Totempfahl

Parallel zur Bearbeitung von bemalten Leinwänden nimmt sich die Künstlerin immer auch antiquarische Bücher vor, um daraus Totem-ähnliche Geschöpfe zu bilden – wie etwa beim Werk „Nouvelle Croyance“ (Neuer Glaube). Als Material diente hier eine Bibel in französischer Sprache. Ihr ist Russell so zu Leibe gerückt, dass am Ende nur noch Buchstaben von der Existenz als Buch zeugen. Hilfsmittel lehnt sie ab. Nichts wird angeklebt oder hinzugefügt.

Lediglich der Buchrücken der Bibel, deren Papierstreifen nun an den Federschmuck von Indianern erinnern, wurde an einem Stab befestigt und das Objekt in eine Vitrine verfrachtet. Viele Bücher, die sie zu Kunstwerken verarbeitet hat, habe sie bei Bouquinisten in Paris erstanden, sagt Russell. Ihren Aufenthalt in Ludwigsburg hat sie jedoch dazu genutzt, um sich im Antiquariat in Alt-Hoheneck mit weiteren Werken der Weltliteratur einzudecken.