Die baden-württembergische Architektenkammer will auf die Herausforderung durch die Flüchtlinge mit neuen Konzepten im sozialen Wohnungsbau antworten: Nötig sei flexibel, bezahlbare und innovativ zu bauen, fordert Kammer-Präsident Markus Müller.

Stuttgart – - Der Präsident der baden-württembergischen Architektenkammer, Markus Müller, sieht die Herausforderung, den vielen Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf zu besorgen, als gesellschaftliche Chance, den sozialen Wohnungsbau zu reaktivieren und für moderne Wohnformen zu öffnen.
Herr Müller, dieses Jahr kommen wohl mindestens eine halbe Million Flüchtlinge nach Deutschland. Inzwischen weiß man kaum noch, wohin mit ihnen, Container, Turnhallen und Zeltstädte sind Notbehelfe auf Zeit.
Kammerpräsident Markus Müller Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth
Die Landkreise und Städte leisten im Moment Großartiges. Ich habe bisher noch nie erlebt, dass Behörden so unbürokratisch handeln. Sie zeigen ein sehr starkes menschliches Engagement weit über ihr Zeitbudget hinaus. Ich finde aber auch das ehrenamtliche Engagement großartig. Die Herausforderung wird von der Gesellschaft angenommen. Und da wollen wir uns als Architekten einreihen.
Wo sehen Sie Ihre Aufgabe?
Im Moment ist hohe Flexibilität gefragt. Es geht darum, jede Möglichkeit im Bestand zu aktivieren, denn den Kommunen brennt der Kittel bei der Akut-Unterbringung. Aber ein Großteil der Flüchtlinge wird bleiben. Die müssen nicht nur untergebracht werden, die müssen hier wohnen und leben können. Wichtig sind deshalb wirtschaftliche, dezentrale Lösungen. Und damit die Dimension deutlich wird: Bei den Sammelunterkünften geht es um einen Bedarf zwischen 4,5 und sieben Quadratmeter je Person. Ein Ein-Personen-Haushalt bewohnt in Deutschland im Schnitt 40 Quadratmeter.
Was ist Ihre Schlussfolgerung daraus?
Unser Beitrag kann nicht sofort gewinnbringend sein, denn Wohnen muss geplant werden. Unsere Herausforderung ist, schnell und sehr wirtschaftlich zu bauen, zudem flexibel, denn es geht ja nicht nur um Flüchtlinge. Also sollte man so bauen, dass neben Flüchtlingen auch Studenten oder Wohngruppen dort wohnen können. Das heißt aber auch, nicht einfach schnell in ein Gewerbegebiet zu gehen, sondern man versucht, bezahlbaren Wohnraum mit guter Nachbarschaftsqualität zu schaffen.
Sie wollen dabei mit dem Land, den Kommunen, dem Landkreistag, der Wohnungswirtschaft und den Kirchen an einem Strang ziehen. Wie muss man sich das vorstellen?
Wir wollen einen Perspektivwechsel in der Flüchtlingsunterbringung, denn wir sehen die aktuelle Herausforderung als gesellschaftliche Chance. Zuwanderung war immer schon Anlass für programmatischen Wohnungsbau, in der Gründerzeit um 1870, in der Moderne um 1920, mit den Nachkriegssiedlungen in den 50er und den Anstrengungen für die Spätaussiedler in den 90er Jahren.
Wie sieht der Perspektivwechsel aus?
Wir haben im Moment schon die Situation, dass es in Baden-Württemberg 30 000 bis 40 000 bezahlbare Wohnungen im Jahr zu wenig gibt. Wenn wir nun große Anstrengungen unternehmen, nur um die Wohnungsnot der Flüchtlinge zu lindern, wird dies kaum sozial verträglich gelingen. Deshalb sind wir dafür, die Mittel für die Wohnbauförderung und das Programm Flüchtlingswohnen gemeinsam zu verwenden, um ein besseres Angebot für Flüchtlinge und andere kostensensible Wohnungssuchende zu schaffen. Wir müssen kostengünstig zeitgemäße Wohnformen und Bauweisen realisieren. Denn der freie Markt wird es nicht richten, für 7,50 Euro Nettokaltmiete zu bauen. Wir müssen dafür aber nicht nur die Fördermittel zusammenlegen, sondern wir brauchen insgesamt mehr Förderung. Bayern beispielsweise gibt 200 Millionen Euro dafür im Jahr aus, Baden-Württemberg nur 75 Millionen.