Außergewöhnliche Nachrichten aus unbekannten Zwischenzonen: „Koma“, die neue Oper von Georg Friedrich Haas und Händl Klaus, als Uraufführung bei den Schwetzinger SWR Festspielen

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Schwetzingen - Stunden nach der Schwetzinger Uraufführung noch, längst jenseits vom Rokokoschloss und heimgekehrt, horcht man darauf, ob sich über dem leisen Kühlschrankgebrumm ein paar Obertöne ergeben, ein Sirren über einer Septe vielleicht, ein Zeichen, wie zuvor an diesem Abend so oft gehört. Kein Knacks würde einem jetzt entgehen, kein Knistern (und seine mögliche Konnotation) unbemerkt bleiben. Man hat müdschlappe, aber auch wieder andere, wachere Ohren. Wenigstens für eine kurze Zeit in der Nacht.

 

In der Nacht und mit der Nacht, genauer: mit der Kammeroper „Nacht“ von Georg Friedrich Haas hat das ja überhaupt alles mal angefangen, was sich da in Schwetzingen so beeindruckend rundete. Und die Szene war folgende: Junger Schriftsteller und Bühnenautor, Händl Klaus, steht vor dem Radio, 1996, und hört (und hört „ergriffen“, wie er sagt), was der ORF aus dem Bregenzer Festspielhaus überträgt, nämlich „Nacht“ – nach Hölderlins „Hyperion“. „Das waren“, rekapituliert Händl Klaus heute, „ungeheuerliche Dinge, die mir die Sprache nicht erlaubt und die mich auf ganz verhängnisvolle Weise anzogen – weil ich mich nicht mehr davon lösen konnte und auch nicht wollte.“ Dinge ist hier gleichbedeutend mit Klänge.

Wer je ein Stück von Haas gehört hat und sich mit dessen Mikrointervallen, Schichtungen, Brechungen und, über allem, seiner undoktrinär offenen Musik anfreunden kann, die so oft eine Spur neben der Tonalität steht, wie das Leben eben häufig eine Winzigkeit anders verläuft, als es im Planspiel zu berechnen wäre, wird den Moment nachvollziehen können. Jedenfalls starteten die zwei sehr eigen verfassten österreichischen Künstler Händl und Haas eine Zusammenarbeit, die man im Fall der dann entstandenen und nun vollendeten Schwetzinger Trilogie nicht anders als symbiotisch nennen kann. Was der eine noch nicht erdacht hatte, hatte der andere bereits verinnerlicht. Gefühlt war fast wie geschrieben.

Es geht auf Leben und Tod

Und es entstanden dunkle, ja dunkelste Stücke, Reisen mit Taggespenstern und Nachtmahren: „Bluthaus“, noch mehr Schauspiel als Oper, zirkulierte abstrakt um die Geschichte der eingesperrten Fritzl-Kinder und der gepeinigten Natascha Kampusch. „Thomas“ widmete sich den letzten Atemzügen eines Mannes, den nur noch eine kalte Krankenhausmaschine in der Welt hält. Die Lebensform vergeht, der Lebenssinn erlischt, und es bleiben nicht mehr als Fragmente übrig: Silben bei Händl Klaus, gebrochenes Material bei Haas. Als zersplitterten in einem fort die ohnehin schräg in den Raum gestellten Harmonien. Wann aber – und wie genau? – geht das Leben ins Nichts über, und ist da, auf der anderen Seite, vielleicht doch mehr als dieses Nichts? Das wollten die beiden dann schon noch wissen. Von diesem Übergang also handelt „Koma“, zwei Stunden, keine Pause, und Atemholen beim Zuschauer ist eigentlich auch nicht so recht vorgesehen.

Auf der Bühne, wo man vorne den großen, projizierten Kopf der Patientin Michaela sieht (und hinten, zwei Bilderrahmen entfernt, ihre Füße, ein surreales Bild), geht es folglich buchstäblich auf Leben und Tod und exakt um jene Zwischenzone, in die ein Mensch gerät, der schon nicht mehr da und noch nicht weg ist. Michaela ist aus dem eiskalten See gefischt worden, man weiß nicht, ob sie sterben wollte, jedenfalls fand sie sich als Lehrerin (und mit Liebhaber, dem Mann ihrer Schwester) gescheitert. Jetzt stirbt sie, es ist eine Frage der Zeit – heute, morgen, übermorgen. Diese Zeit verschwimmt in „Koma“, denn Michaela, die Vokalisen aus der Seitenloge singt (umwerfend zart und kräftig: Ruth Weber), ist eigentlich nur noch eine Vorstellung der anderen – Erinnerungsmaterial.

Die Ärzte sprechen Krankenhausprosa

Die eher handfesten Personen auf der Bühne, um Michaela herum, kennen die Situation: Es sind Pfleger und Ärzte, und sie sprechen Krankenhausprosa. Die Familienangehörigen kennen die Situation nicht: Es sind der Mann, der Geliebte, die Schwester (die Mutter spukt von fern hinein) und das stumme Kind, das Michaela gerettet hat. Man wäscht die Patientin, stimuliert sie, erzählt aus ihrem Leben. Albträume kommen hoch, Lebenspassagen werden erinnert, Illusionen beleuchtet. Das Reale und das Ungreifbare überlagern sich, und das Werk spricht aus, was Worte nicht sagen können. Am Ende verteilen sich die Stimmen des großartigen (oft geradezu melodienseligen) Ensembles im Raum des Schwetzinger Theaters und rufen, tonlos, nur noch den Namen: „Michaela“, wo immer Michaela jetzt ist. Gefallen, gestiegen? Man weiß es nicht. Es ist Glaubenssache. Nur, dass sie nichts mehr hörte, kann man sich kaum vorstellen.

Georg Friedrich Haas, und das ist neben der subtilen Regie der Szenen durch Karsten Wiegand das eigentliche Ereignis, dringt mit seiner Musik und dem kleinen Ensemble des Radio-Sinfonieorchesters des SWR unter Jonathan Stockhammer in Bereiche vor, in denen vor ihm noch keiner war, wenn seine Schichtungen (mit Akkordeon-Einsprengseln und starken Posaunen im Bass) alle paar Minuten buchstäblich aus dem Nichts kommen. Bis auf einen minimalen Schein durch Türritzen wird das Theater nämlich periodisch von Helfern (die selbst die Notausganglichter abschirmen) komplett verdunkelt. Die Musiker spielen meist flächige, (de-)crescendierende Übergänge minutenlang auswendig. Das Ergebnis ist, in dürren Worten gesagt, bewusstseinserweiternd: Die Töne verselbstständigen sich zu Trägern in einem Bewusstseinsstrom.

Man ist sich, verkürzt gesagt, oft nicht mehr sicher, ob man noch Außenstehender ist oder bereits Bestandteil des Stücks geworden sein könnte. Haas schreibt also ein großes Kapitel fort in jenem Buch, das Luigi Nono einst „Tragödie des Hörens“ betitelt hat. Und, ja: Ergriffenheit ringsum und schließlich ein Kniefall des Komponisten vor den allesamt wagemutigen, aufs Höchste geforderten und 120 Minuten auf des neuen Musikmessers Schneide balancierenden Musikern des RSO. Kniefall auch unsererseits.