Neues über Richard Wagner? Der Stuttgarter Bratscher, Antiquar und Musikwissenschaftler Ulrich Drüner hat mit einer 800-Seiten-Studie viel Aufsehen erregt. Zu Besuch bei einem leidenschaftlichen Forscher.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Um den Komponisten Richard Wagner, geboren 1813 im sächsischen Leipzig, hat der Musiker Ulrich Drüner, geboren 1943 im elsässischen Thann, ziemlich lange einen Riesenbogen gemacht. „Einen Dreck“ habe er sich „um den“ gekümmert als Freiburger Student und Instrumentalmusiker, sagt Drüner deutlich. Kein Witz.

 

Und dann war das späte, erste Aufeinandertreffen von Werk und Interpret überdies auch noch recht unglücklich, jedenfalls „kein Erweckungserlebnis, sondern eher ein Schock“.

Ulrich Drüner Foto: privat

Ulrich Drüner sitzt in seinem Antiquariat auf der Stuttgarter Uhlandshöhe vis-à-vis vom Notenständer, auf dem die Ausgabe des ersten Akts von Richard Strauss’ „Rosenkavalier“ wartet, mal wieder geübt zu werden. Neben der Stimme die Bratsche im Kasten. Ein neuer Bogen im Futteral.

Es ist seltsam mit Instrumenten. Immer meint man, dass sie einen vorwurfsvoll anschauen, wenn man nicht mit ihnen arbeitet, wie man wohl sollte.

Ulrich Drüners schmollende Bratsche jedenfalls war Hochbetrieb gewohnt. Ihr Besitzer hat sie 33 Jahre – dankbar für den Rahmen und deshalb lange auch Vorstand – im Stuttgarter Staatsorchester gespielt. Dort fängt er nach Studium und sechs Jahren Kammerorchester unter Karl Münchinger 1975 an – und zwar mit Richard Wagners sehr deutscher, oberflächlich altfränkischer, aber auch abgründiger Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“. Ohne Proben. „Das war damals so“, sagt Drüner, dem sich in den ersten beiden Aufzügen schon „ein bisschen der Boden auftat“, aber er sitzt am hintersten Pult – und „durch kommt man ja immer . . .“

Fünf Jahre Schreibarbeit

Dann aber „Parsifal“, in der – viele Stuttgarter werden sich erinnern – ziemlich zeitlosen Nagel-Optik von Günther Uecker (Inszenierung: Götz Friedrich, Silvio Varviso am Pult): Und da war es – wie soll man das jetzt anders sagen? – um Ulrich Drüner gewissermaßen geschehen. Als Musiker, der tatsächlich manchmal, bereits im Vorspiel, weinen muss, weil es für ihn derart „tief in die Seele führt, dass es kein Entrinnen gibt“.

So steht es im Schlusskapitel „Musik: Die Sprache vor und nach der Sprache“ in Drüners Buch „Richard Wagner. Die Inszenierung seines Lebens“ (Blessing Verlag), das im Sommer nach fünf Jahren Schreibarbeit und Jahrzehnten der intensiven Beschäftigung herausgekommen ist. Auch die Tränen des Autors finden dort Erwähnung. Dass geheult wird beim „Parsifal“ ist dabei nichts Neues. Der Komponist Alban Berg schämte sich nicht, geweint zu haben, als er vom „überwältigenden Wunder“ des „Parsifal“ 1909 aus Bayreuth an seine Frau Helene schrieb. Romain Roland hatte, 18 Jahre zuvor, gar „das fünfte Evangelium“ gehört, und selbst Friedrich Nietzsche, ehemals Jünger Wagners, danach dessen schärfster Kritiker, ließ den Vorwurf, Wagner sei der „Cagliostro der Modernität“, einfach fallen, als er zufällig in Monte Carlo das Vorspiel vernahm: „Ist es nicht die letzte Herausforderung der Musik?“

Unter Musikwissenschaftlern freilich sind feuchte Augen kategorisch ausgeschlossen, wenn es um die Einordnung von Werken geht. Entsprechend allergisch-aggressiv reagierte die Zunft teilweise, als Drüners Buch im letzten Sommer erschienen war und für sich in Anspruch nehmen konnte (neben einem hochoriginellen Ansatz), etliches wirklich Neues zutage gefördert zu haben: Neben dem allergenauesten Blick auf Wagners nicht nur vordergründigen, sondern latent werkimmanenten Antisemitismus legt Drüner nahe, dass es sich beim Komponisten gewissermaßen um den ersten Virtuosen in der Handhabung postfaktischer Techniken handelt. Denn Richard Wagner dachte tatsächlich bereits teilweise trumpistisch: Wahr ist, was die eigene Schöpfung beflügelt. Dazu gleich mehr.

Was wäre verhältnismäßig?

Drüner jedenfalls fängt Ende der siebziger Jahre an, Wagners Leben und Werk von Grund auf zu studieren – und zwar gewissermaßen von drei Seiten aus. Er ist einerseits der infizierte Musiker, andererseits der – über Wagner – promovierende Musikwissenschaftler. Dazu, aus Neigung und „Besessenheit“, seit er als junger Mann einen Stapel Notenblätter aus dem achtzehnten Jahrhundert bei einem Flohmarktbesuch in Aix-en-Provence entdeckt: Antiquar, und als solcher natürlich hochinteressiert an Quellen, und wenn es auch nur ein Albumblatt oder ein zunächst nicht weiter wichtig scheinender Brief ist.

Während der reine Wissenschaftler mit seinen Funden – so er etwas findet und nicht nur reproduziert – aber wieder hinter dem Schreibtisch verschwindet, sitzt Drüner gewissermaßen zwischen allen Stühlen. Nirgendwo richtig daheim. Was natürlich nicht das Schlechteste sein muss für die Entwicklung einer fundierten Meinung, wie man weiß.

Sträflich kurz gerafft angesichts dieser 800 Seiten minutiöser Arbeit – aber was wäre verhältnismäßig? – darf man sagen, dass Drüner auf seine partienweise unkonventionelle Art mit ein paar Legenden aufräumt, die in der Wagner-Forschung – und dies vor allem im Jubiläumsjahr 2013 – immer noch hübsch, allzu hübsch, Bestand hatten und haben. Wie man das macht, hat ehedem der Freiburger Musikwissenschaftler Volkmar Braunbehrens gelehrt, als er nachwies, dass die Mär vom Hungerleider Mozart in Wien nur verklärter Kitsch gewesen war. Braunbehrens las die verfügbaren Rechnungen und Ordres, die belegten, dass hier simpel noch mehr an Geld zum Fenster hinausgeschmissen wurde, als in Säcken zur Tür hereingekommen war. So auch Wagner: Wer, wie er zu seinen Pariser Zeiten, über umgerechnet 150 000 Euro Jahresgehalt verfügte, war nun wirklich nicht arm zu nennen (ein Bild, das er kultivierte). Im Übrigen wurden viele seiner Geschäfte angebahnt von Giacomo Meyerbeer, den Wagner später in seiner widerlichsten Schrift überhaupt, „Das Judentum in der Musik“, verbal buchstäblich schlachten sollte. Und Drüner zeigt auf, dass die Metzgerei nicht von ungefähr kam, wie die Forschung bisher gerne behauptet hat.

Die Welt ist Wagners Bühne

Von Anfang an hat Wagners Leben etwas befremdlich Changierendes, Unaufrichtiges, Doppelbödiges. Später wird ihm jedes Mittel recht: Lüge, Fakes, Selbstverleugnung. Er ist selber der größte (falsche) Tragöde auf seiner Bühne, wo alles Theater ist. Alles.

Und bis heute hat sein Storytelling Wirkung, wiewohl sich nach einer großen Debatte zu Wagners Antisemitismus in den siebziger Jahren, angestoßen von Hartmut Zelinsky zum Beispiel, die Wissenschaft weitgehend wieder im Gemütlichkeitsbereich einrichtete. Die Werkausgabe der Briefe Wagners, gestorben 1883 in Venedig, harrt zum Beispiel immer noch der Vollendung. Und die Bayreuther Festspiele leben in einer herrlichen Isolation, biedermeierlichst verwaltet von Katharina Wagner. „Die Deutschen“, wusste sehr hellsichtig schon Nietzsche, „haben sich einen Wagner zurechtgemacht, den sie verehren können: . . . sie sind damit dankbar, dass sie missverstehen.“

An diesem Punkt des Gesprächs in der „Bücherhöhle des Antiquariats“ (Drüner) liegt es nahe, noch einmal auf den Komponisten Alban Berg zurückzukommen, welcher, konfrontiert mit etlichen dieser grauenhaften Seiten Wagners, einem Generalkritiker antwortete: „Sie tun sich leicht, mein Lieber, Sie sind halt kein Musiker!“ Ulrich Drüner sagt es anders, aber ähnlich, wenn er gerade im „Parsifal“, wo das Leitmotiv der Hauptfigur vierzigmal vorkommt, aber nie identisch ist, eine Sprache erkennt, die „jenseits der Sprache ist“, also „unwiderstehlich“, wie schon Thomas Mann meinte, der, ganz im Gegenteil, mit „suggestivem Schwindel“ gerechnet hatte. An die Musik, so Ulrich Drüner, dürfe man sich „halten, auch wenn man die Schattenseiten des Werks verinnerlicht“.

In diesem Sinn hat Drüner Position bezogen und steht damit auf einer Warte, die selten geworden ist: Je bunter die Welt ist, desto mehr tendiert sie zum vereinfachenden Unterscheiden in Schwarz und Weiß. Alles in allem hat dieser Prozess, an dessen vorläufigem Ende ein streitbares und streitwürdiges Buch steht, 15 Jahre gedauert, aber manchmal wird man eben die Geister nicht mehr los, die man gerufen hat. Neben dem vernachlässigten, „sonst sehr intensiven“ Drüner’schen Familienleben ruft jetzt aber auch schon sehr deutlich hörbar den ruhelosen Pensionisten: die Bratschenpartie im „Rosenkavalier“.