Offenbar wurden automatische Gewehre der Schwarzwälder Rüstungsschmiede Heckler&Koch in den mexikanischen Bundesstaat Guerrero geliefert – trotz Ausfuhrkontrolle. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft ermittelt nun.

Tixtla - Sie wollten doch nur demonstrieren, weil einige ihrer Mitstreiter zu Unrecht im Gefängnis saßen. Aber dann eskalierte die Situation. Es kam zu einem Handgemenge. Plötzlich brachten die Polizisten ihre Gewehre in Anschlag. „Da mussten wir ihnen doch ihre Waffen abnehmen.“ Gonzalo Molina sitzt auf einer Bank und blickt nervös um sich. Ständig klingelt sein Handy. Drei Monate ist es her, seit seine Miliz das Rathaus besetzt hatte. Die Geschichte kann für ihn noch böse ausgehen.

 

Seit Molina mit anderen Bürgern der mexikanischen Kleinstadt Tixtla vor einem Jahr eine eigene Schutztruppe gegründet hat, ist er Tag und Nacht im Einsatz. Das Gewehr geschultert, steht der 48-Jährige in seinem verschwitzten, olivgrünen T-Shirt im „Hauptquartier“. So nennt er den Unterstand am Rande eines Basketballfeldes, in dem sich die Bürgerwehr eingenistet hat. Eine schwarze Plane schützt vor der sengenden Sonne, eine quer gelegte Kabeltrommel aus Holz dient als Tisch, auf der Feuerstelle köchelt Kaffee.

Gerade ist er mit seinem Freund David Chanita von einer Patrouille zurückgekehrt. Im Ortszentrum ist man in Sorge. Ein Sturm hat Tixtla unter Wasser gesetzt. Die Bewohner müssen sich durch eine meterhohe stinkende Brühe kämpfen. Einige stehen im Schlamm und bewachen Kühlschrank und Fernseher. Also sind Molina und Chanita zu einer Familie gefahren, die um Hilfe gebeten hatte. Wer, wenn nicht die Bürgerwehr sollte hier im Bundesstaat Guerrero die Bürger schützen?

Die Bürgerwehr von Tixtla im Hauptquartier Foto: Vogel

„Früher haben sich die Kriminellen wegen des Drogenanbaus untereinander bekämpft. Inzwischen fordern sie Schutzgeld von Händlern und entführen unsere Kinder“, erzählt der Familienvater. Jeder weiß: Bürgermeister, Polizisten und Sicherheitskräfte arbeiten oft eng mit der Mafia zusammen. Deshalb haben sich Molina und seine Leute bewaffnet, so, wie es derzeit viele in Mexiko tun – in Tixtla etwa 200 Männer und Frauen. „Alles, was wir machen, ist völlig legal“, betont er. Mit den schwer bewaffneten Milizen, die sich im benachbarten Bundesstaat Michoacán heftige Gefechte mit dem Kartell der „Tempelritter“ liefern, sei seine Truppe nicht zu vergleichen. „Wir haben nur unsere Jagdgewehre, und andere Waffen wollen wir auch nicht“, betont er.

Stimmung in Tixtla ist angespannt

Noch sind die Kämpfe in Guerrero nicht so eskaliert wie in Michoacán, wo Bürgerwehren ganze Städte gegen die Mafia verteidigen müssen. Dort hat die Regierung jüngst beschlossen, die Milizen zu legalisieren, weil sie selbst die Lage nicht mehr in den Griff bekommt. Doch auch der Gouverneur von Guerrero schließt eine solche Kooperation mittlerweile nicht mehr aus.

Die Stimmung in Tixtla ist angespannt, seit die Bürgerwehr das Rathaus stürmte. Molina erfährt, dass gegen ihn ein Haftbefehl vorliegt. Ob die gefährliche Beute eine Rolle spielt? Fünf großkalibrige Waffen haben sie mitgenommen, darunter zwei Sturmgewehre vom Typ G36 der Schwarzwälder Rüstungsschmiede Heckler&Koch (H&K) – Waffen, die nie hierher hätten gelangen dürfen. Doch in Tixtla kümmert das niemand. Der städtische Sicherheitsbeauftragte Rubén Reyes Cepede erklärt freimütig: „Wir besitzen elf G36-Gewehre in verschiedenen Ausführungen.“ Auch Polizisten, die das Rathaus bewachen, tragen die Waffen aus Oberndorf a. N.ckar.

Guerrero zählt zu einem von vier Bundesstaaten, die das Bundesamt für Ausfuhrkontrolle wegen der schlechten Menschenrechtslage explizit von der Exportgenehmigung ausgeschlossen hatte. Weil die Waffen trotzdem in den Regionen gelandet sind, ermittelt die Stuttgarter Staatsanwaltschaft gegen H&K wegen des Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontroll- und das Außenwirtschaftsgesetz. Der Rüstungskritiker Jürgen Grässlin hatte im April 2010 Anzeige erstattet, nachdem ihn ein Firmenmitarbeiter über den Verbleib der Waffen informiert hatte. Auch eine Liste des mexikanischen Verteidigungsministeriums (Sedena) bewies: etwa die Hälfte der gelieferten G36 ist in die „verbotenen“ Bundesstaaten gegangen. Dennoch verwahrte sich das Unternehmen lange gegen die Anschuldigungen. „Heckler&Koch hält sich an Recht und Gesetz der Bundesrepublik Deutschland“, ließ die Geschäftsführung wissen. Deren Versuch, zwei Mitarbeiter allein für den Export verantwortlich zu machen, scheiterte im Januar vor einem Arbeitsgericht. Grässlin erweiterte daraufhin seine Anzeige wegen illegalen Waffenhandels auf 14 Firmenangehörige.

Am Wochenende sind neue Vorwürfe laut geworden (der Bericht dazu läuft heute Abend um 20.15 Uhr auf Arte). Demnach wurden deutlich mehr Sturmgewehre nach Mexiko geliefert, als die deutschen Behörden genehmigt hatten. In zwei Schreiben, die der Stuttgarter Zeitung vorliegen, hat das Sedena zunächst angegeben, man habe zwischen 2003 und 2008 genau 10 082 Gewehre erworben, um die Zahl in einem zweiten Schreiben am Folgetag auf 9652 zu reduzieren. Eine Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken jedoch bestätigt: Die Behörden haben nur die Ausfuhr von 8065 H&K-Gewehren genehmigt. Wie diese Differenzen zustande kommen, wird die Staatsanwaltschaft klären müssen. Grässlin will eine weitere Anzeige stellen.

Zwei Menschen sind schon erschossen worden

Den Freiburger Aktivisten beschäftigt noch eine andere Frage: Ist das Standardgewehr der mexikanischen Armee, die FX05, eine Kopie des G36, hergestellt mit Hilfe eines Technologietransfers seitens von H&K? Der Politikwissenschaftler Carlos Pérez Ricart bekräftigt gegenüber der Stuttgarter Zeitung diese Vermutung. „Wir wissen, dass die mexikanische Regierung 2003 und 2004 an einem Lizenzvertrag mit Heckler&Koch interessiert war“, sagt er. Es sei um die Produktion von G-36-Gewehren gegangen. Vier Jahre lang habe das Finanzministerium dafür Geld an H&K überwiesen. Insgesamt habe man eine Summe von 22,8 Millionen Pesos (etwa 1,2 Millionen Euro) bezahlt, bestätigt das Verteidigungsministerium und räumt ein, dass es einen Technologietransfer gegeben habe. Für das Geld wurden in Mexiko zwar nie G 36 hergestellt, heute aber produziert dort eine Fabrik das FX05, das nach Meinung vieler Experten eine Kopie des deutschen Gewehrs ist.

Die Bundesregierung weiß offenbar nichts von diesen Blaupausen. Doch ohne Zuarbeit der Schwarzwälder Firma ist ein Nachbau schwer möglich, meint Grässlin: „Eine Hightechwaffe vom Typ G 36 kann nicht einfach nachgebaut werden, dazu brauchen Sie das Knowhow von hochqualifizierten Technikern von Heckler&Koch.“

Gonzalo Molina von der Bürgerwehr in Tixtla wundert sich: „Man sagt, das G 36 sei verboten, aber das tragen hier doch alle.“ Sorgen macht sich der Mexikaner darüber, wer die Gewehre noch haben könnte: „Wenn die Regierung sie hat, dann auch die Mafia.“ Berichte in den Medien geben ihm recht. Immer wieder werden G36 bei Durchsuchungen von Häusern korrupter Polizisten und von Killern der organisierten Kriminalität gefunden. Molina hätte die Gewehre lieber so schnell wie möglich wieder los. „Wir wollen diese gefährlichen Waffen gar nicht haben und geben sie auch zurück, wenn die verhafteten Milizionäre freigelassen werden“, erklärt er, trinkt einen Schluck Kaffee und rückt seine Kappe zurecht. Wo die G36 gelagert seien? „Irgendwo in der Nähe.“ Mehr will er nicht sagen. In den Medien gab es Berichte, wonach seine Truppe mit Nato-Waffen schießen würde. Wieder klingelt das Handy. Das Gespräch endet abrupt. Molina und Chanita springen in ihren Pick-up und rasen los.

Die Beute der Miliz: eines von zwei G36 Foto: Vogel

Am anderen Ende der Stadt besucht der Menschenrechtsverteidiger Manuel Olivares gerade die Familie Echeverría de Jesús. Deren Sohn Gabriel und ein Kommilitone waren vor zwei Jahren bei einer Demonstration von Polizisten erschossen worden. Die Studenten der als rebellisch bekannten pädagogischen Fachschule Ayotzinapa wollten sich für bessere Lernbedingungen und gegen den ständigen Unterrichtsausfall einsetzen. Also blockierten sie die nahe gelegene Autobahn. Doch kaum dort angekommen, rückten Polizisten an. Steine flogen, Tränengas vernebelte die Luft, eine Tankstelle ging in Flammen auf, Schüsse fielen. Plötzlich lagen Gabriel Echeverría und Jorge Alexis Herrera tot auf der Straße.

Noch immer fällt es Mutter Maria Amadea schwer, darüber zu sprechen. „Sie haben ihn umgebracht“, ist sie sich sicher. Auch an diesem Tag tragen Polizisten das G36. Mindestens zwölf der Gewehre seien im Einsatz gewesen, erklärt Rechtsanwalt Vidulfo Rosales, der die Familie in Tixtla vertritt. Ob die beiden mit den deutschen Waffen getötet wurden, ist nicht geklärt.

Der Menschenrechtsanwalt Olivares setzt sich dafür ein, dass die Verantwortlichen bestraft werden – bis jetzt erfolglos. Beamte, die nach der Blockade festgenommen worden sind, seien wieder auf freiem Fuß, erklärt er. Plötzlich geht auf Olivares Handy ein Anruf ein: Molina und Chanita sind an einer Kontrollstelle festgenommen worden. Als er im „Hauptquartier“ ankommt, haben sich dort schon Angehörige und Milizionäre in ihren schlichten Uniformen versammelt. Einige tragen Jagdgewehre, andere haben das G 36 aus dem Versteck geholt, zeigen mit ein wenig Stolz auf die Prägung: „HK G36C, Kal. 5,56 mm x 45“.

Was tun? Langsam verschwindet die Sonne schon hinter den Bergen, und Molina sowie Chanita tauchen nicht auf. Sollte man die Gewehre zurückgeben? Der Bürgermeister, der die Anzeige wegen der Rathausbesetzung gestellt hatte, sei dann zu Gesprächen bereit, heißt es. Doch es muss etwas passieren. Also ziehen mehrere Hundert Männer vor das Gefängnis in Chilpancingo. Ihre Schusswaffen lassen sie im „Hauptquartier“, Holzprügel nehmen sie zur Sicherheit mit. Die Nacht verläuft ruhig, und wenige Tage später kommt Chanita frei. Molina hingegen wird in ein Hochsicherheitsgefängnis verlegt. Sein Fall liegt bei der Generalstaatsanwaltschaft in Mexiko-Stadt. Der Vorwurf: Terrorismus sowie Geiselnahme. Und der Besitz von Kriegswaffen. Sein Jagdgewehr ist nicht gemeint.