Die Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen hat einen neuen Chef: Jens Rommel war Oberstaatsanwalt in Ravensburg und ist jetzt der oberste Nazijäger Deutschlands. Klare Worte scheut er nicht.

Ludwigsburg - Die ersten Akten liegen schon auf dem Schreibtisch, daneben steht eine Vase mit Blumen. Die haben ihm die Mitarbeiter geschenkt, sagt Jens Rommel. Die Wände seines Büros sind noch nackt, auf einem grauen Schrank steht ein gerahmter Stadtplan von Ludwigsburg aus dem Jahr 1935, auf den Fensterbrettern sind einige Grünpflanzen platziert, in einem Regal ein paar Bücher, die ihm sein Vorgänger Kurt Schrimm hinterlassen hat. Seit einer Woche ist Jens Rommel in Ludwigsburg.

 
Seit er zum Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen befördert wurde, häufen sich die Interviewanfragen, der SWR war da, der Spiegel hat sich angekündigt. Kürzlich noch war der 43-Jährige ein unbekannter Oberstaatsanwalt in Ravensburg, jetzt gibt es einen Wikipedia-Eintrag über ihn. Er weiß, dass sein neuer Job kein gewöhnlicher ist, sondern einer, in dem seine Arbeit sehr genau beobachtet wird, auch im Ausland. Bald macht er seinen Antrittsbesuch in Berlin und wird dort die Hände vieler wichtiger Politiker schütteln. Trotzdem wirkt Rommel, randlose Brille, dunkelblaue Krawatte, dunkelgrauer Anzug, nicht gehetzt. Er nimmt sich Zeit.
Herr Rommel, die Zentralstelle ist in die Jahre gekommen. Ist das noch ein attraktiver Job?
Ich finde ihn sehr reizvoll. Es ist eine einmalige, wohl letztmalige Gelegenheit, das so kennenzulernen. Die Zentrale Stelle leistet einen ganz wichtigen Beitrag, den sonst keiner leisten kann: Sie arbeitet das Geschehen heraus, ermittelt Tatorte und Beteiligte und baut die Brücke zu konkreten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen. Das ist spannend und unverzichtbar.

Unter Rommels Vorgänger Kurt Schrimm entfaltet die 1958 gegründete Zentralstelle noch einmal eine intensive Ermittlungsarbeit – die in den spektakulären Prozessen gegen die SS-Männer John Demjanjuk und Oskar Gröning mündete. Trotzdem steht die Behörde in der Kritik. Zu lange sei zu wenig unternommen worden, um weitere Täter zu finden, klagen Historiker. Zu spät werde nun gegen Greise ermittelt, während andere Nazis jahrzehntelang unbehelligt blieben. Der baden-württembergische Justizminister Rainer Stickelberger hat bekräftigt, dass die Zentralstelle weiter arbeiten soll – so lange, bis keine Hoffnung mehr bestehe, noch lebende NS-Verbrecher zur Verantwortung ziehen zu können. Ein paar Jahre also noch. Rommel weiß, dass er vermutlich der letzte Chef in Ludwigsburg ist.

Mit welchem Ziel sind Sie nach Ludwigsburg gegangen? Was wollen Sie erreichen? Wiedergutmachung? Gerechtigkeit?
Wir sind es den Opfern schuldig, uns bis zum Schluss um eine strafrechtliche Aufarbeitung zu bemühen. Ich gehe aber ohne Sendungsbewusstsein an diese Aufgabe heran. Ich kann daher auch nicht sagen, dass es mein persönlicher Antrieb wäre, Wiedergutmachung zu leisten. Aber vielleicht entwickle ich das ja noch. Meiner Meinung nach ist der deutsche Staat aufgerufen, diese Staatsverbrechen aufzuklären. Es geht dabei auch nicht um die Anzahl der noch möglichen Verurteilungen, denn es werden wohl nicht mehr sehr viele sein. Sondern um das redliche Bemühen, nichts unversucht zu lassen.
Mit dem Demjanjuk-Prozess hat die Suche nach Nazis wieder angezogen, davor war es ruhig um die Zentralstelle geworden. Wurde zu wenig getan?
Wenn früher etwas versäumt wurde, können wir es heute nicht mehr nachholen. Sicher ist es aus heutiger Sicht so, dass man Leute verfolgen würde, die man früher nicht verfolgt hat. Man hat sich damals auf die Oberen in der Befehlskette konzentriert, heute geht man viel weiter.
Man hätte mehr Täter fassen können?
Die Rechtsprechung der Obergerichte war lange sehr zurückhaltend, auch das politische Klima war anders. Selbst die Alliierten haben Täter erst zum Tod verurteilt und dann wieder laufen lassen. Ja, man kann sich des Eindrucks nicht erwehren: es war zu spät, zu mild, es waren zu wenige.

Rommel ist gefragt worden, ob er sich einen Wechsel zur Zentralstelle vorstellen könne, erst danach bewarb er sich. Anders als Schrimm, der vor seiner Zeit in Ludwigsburg als Oberstaatsanwalt mit NS-Prozessen betraut war, betritt Rommel Neuland. Dennoch nennt der Justizminister ihn eine Idealbesetzung. Rommel arbeitete unter anderem für den Generalbundesanwalt und als Referent bei der Europäischen Union. Er habe dabei großes diplomatisches Geschick bewiesen, so Stickelberger. Das wird er brauchen. Wie der Leiter der Zentralstelle auftritt, was er sagt und wie er es sagt, wird registriert. Es gehe dabei um mehr als Justiz, sagt Rommel. Das man weitermache, sei ein politisches Signal. Für die Ermittlungen vor Ort, in den Archiven in Südamerika und Osteuropa, ist ebenfalls Überzeugungsarbeit nötig. Nicht immer sind die Länder, in denen die Ermittler unterwegs sind, bereit zur Kooperation. Rommel sagt, er bringe große geschichtliche Neugier mit, werde aber sicher eine gewisse Einarbeitungsphase benötigen.

Sie gelten jetzt als Deutschlands oberster Nazijäger. Gefällt Ihnen das?
Ich habe natürlich darüber nachgedacht, inwiefern der Begriff passt: Ein Jäger stellt nach, läuft beharrlich hinterher, um an etwas heranzukommen – da stimmt das Bild. Viel mehr stimmt nicht. Der Jäger versucht seine Beute zu erlegen, er sammelt Trophäen, das trifft auf uns nicht zu.
Sie werden sich künftig mit den wohl schlimmsten Verbrechen der Menschheit auseindersetzen.
Vieles davon ist fast unfassbar, wahnsinnig bedrückend. Aber auch wenn einen das nicht loslässt, gibt es einen rationalen Teil, den man abarbeiten muss. Ich war in Ravensburg mit einem Fall befasst, in dem eine Mutter ihr sechsjähriges Kind getötet hatte. Auch da kann man die emotionale Seite nicht abschütteln, aber man muss es abarbeiten.

In normalen Strafprozessen spielt die Resozialisierung der Täter eine entscheidende Rolle, und die Strafe dient vor allem der Abschreckung. In den Prozessen gegen NS-Verbrecher ist das anders. Hier steht die Strafe im Vordergrund, oder wie Rommel es ausdrückt: es geht um den Schuldspruch an sich. Doch obwohl die Täter alt sind und die Taten lange zurückliegen, ist das Thema so aktuell wie lange nicht. In Deutschland wird wieder intensiv über die Vergangenheit diskutiert, weil in der Gegenwart ein tot geglaubtes Gespenst zurückkehrt: der Rassismus. Flüchtlingsheime brennen, der Ton auf den Straßen und im Internet wird härter. Kurt Schrimm hat zu seinem Abschied in Ludwigsburg gesagt, er mache sich keine Illusionen: Auch im 21. Jahrhundert bestehe die Gefahr, dass radikale Kräfte die Oberhand gewinnen und das Volk auf Demagogen hereinfällt. Die Aufklärungsarbeit der Zentralstelle könne daran nichts ändern. Auch Jens Rommel sieht diese Gefahr, klingt aber optimistischer.

Herr Rommel, sind die Menschen heute Geschichtsvergessen?
Dass die Pegida-Bewegung gerade in Dresden vorgibt, das Abendland zu verteidigen, ist jedenfalls schwer auszuhalten. Vor der Kulisse der Frauenkirche, diesem geschichtsträchtigen Ort und Mahnmal. Womit ich nicht sagen will, dass mir die Demonstrationen an anderer Stelle besser gefallen würden.
Die Zahl der Brandanschläge wächst. Wie besorgt sind Sie?
Es gibt einen himmelweiten Unterschied zwischen den staatlich organisierten Massenverbrechen des Dritten Reiches und den Straftaten, die heute begangen werden. Ich sehe Deutschland nicht annähernd in der Verfassung wie damals, als der Staat seine Bürger nicht geschützt, sondern verfolgt hat. Aber wir müssen wachsam sein.
Inwiefern?
Ich habe mich als Staatsanwalt auch mit Strafsachen mit politischem Hintergrund befasst. Die Brandanschläge erinnern mich an die 1990er Jahre, und ich hätte nicht geglaubt, dass das wiederkommt. Das sind gefährliche Tendenzen.

Über Ravensburg nach Ludwigsburg

Person –
Jens Rommel ist in Ravensburg aufgewachsen. Der 43-Jährige hat nach dem Jura-Studium für mehrere Amtsgerichte, das baden-württembergische Justizministerium und den Generalbundesanwalt gearbeitet. Von Mai 2010 bis Januar 2013 war Rommel Ressortbeobachter des Landes bei der Europäischen Union in Brüssel, danach wurde er Oberstaatsanwalt und stellvertretender Leiter der Staatsanwaltschaft Ravensburg. Jens Rommel ist Mitglied der FDP und nicht verwandt mit dem ehemaligen Generalfeldmarschall Erwin Rommel und dem ehemaligen Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel.

Behörde
– Die Zentralestelle wurde 1958 als Behörde aller Landesjustizverwaltungen gegründet. Die ersten Recherchen mündeten in die Frankfurter Auschwitz-Prozesse. Bis heute wurden 8000 Fälle an Staatsanwaltschaften übergeben. 1975 arbeiteten 49 Ermittler in Ludwigsburg, jetzt weniger als zehn. (tim)