„Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ des österreichischen Autors Clemens Setz ist für die Longlist des deutschen Buchpreises nominiert worden. Der Roman ist eine Zumutung, aber eine, der man sich unbedingt stellen sollte.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgar - Dieses tausend Seiten lange Buch ist für den Leser eine einzige schallende Ohrfeige. Aber eine, die ihn zum Masochisten macht. Jede Seite starrt von schmerzhaften Zumutungen, und doch kann man nicht anders, als nach immer mehr und mehr zu verlangen. Bis man selbst Teil dieses irrwitzigen Gespinstes geworden ist, gefesselter Komplize eines einschüchternd dominanten Erzählers, der so abgründige Spielchen treibt, dass sie jeder Beschreibung spotten. Wie soll man erklären, auf was man sich da eingelassen hat, wer nimmt einem diese Geschichte ab?

 

Spätestens seit dem Roman „Indigo“ weiß man in etwa, was von dem unberechenbar hochbegabten Autor Clemens Setz zu gewärtigen ist: gefühlskalte Kindermonster, die allseits Übelkeit und Durchfall erzeugen und deshalb weggesperrt werden müssen. Aber was der Österreicher nun in der „Stunde zwischen Frau und Gitarre“ angerichtet hat, beschert dem Leser eine Woche zwischen Wahn und Hirngespinst, die noch länger nachhallt als alle Gitarrensaiten der Welt.

Die seltsamste Ménage à trois der Literaturgeschichte

Was ist der Plot? „Das war der Name einer Maus, die ich mal gekannt habe. Sie war sehr gut in Labyrinthen, deshalb haben wir sie so genannt“, sagt eine der Roman-Figuren an fortgeschrittener Stelle. Versuchen wir also, den Plot am Schwanz zu packen, folgen wir der 21-jährigen Behindertenpädagogin Natalie Reinegger an ihren Arbeitsplatz der Villa Koselbruch, einem betreuten Wohnheim, dessen Personal sich zugute hält, „die besten Idioten der Welt“ zu beherbergen. Zu ihnen gehört Horst, der den ganzen Tag gebrauchte Batterien auf ihre Ladung prüft, Mücken sammelt und mit einem Taschenrechner befreundet ist. Oder Mike, der nach einem Autounfall die Orientierung verloren hat, jeden zweiten Dienstag im Monat von seiner Familie besucht wird, und in Zeiten der Krise seine Wände mit haarsträubenden Bildern bemalt: „Wer davon keine Albträume bekommt“, denkt Natalie, „der hat keine Seele.“

Doch den Kern der kleinen Gemeinschaft bildet das Arrangement, das zwischen dem Rollstuhlfahrer Herrn Dorm und Herrn Hollberg besteht. Damit kippen die Dinge ins Merkwürdige. Und wir können sie hier nicht so erzählen, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass ein Stalker, Herr Dorm, erst die Frau des angebeteten Herrn Hollberg in den Selbstmord treibt, dann aber nach seiner Einweisung in die Psychiatrie regelmäßig ausgerechnet von demjenigen Besuche empfängt, dessen Leben er zerstört hat. Diese sehr spezielle Quälbeziehung wird unter Natalies Obhut bis in alle emotionalen Nuancen zwischen Unterwerfung und Herrschaft zu der wohl seltsamsten Ménage à trois der Literaturgeschichte ausbuchstabiert: ein schwuler Behinderter, der in Frauen nur hohle, unerträgliche Gebilde in Gitarrenform sieht, ein undurchsichtiger Witwer in der Nachspielzeit seines Lebens, halb Idol, halb Racheengel, und eine Betreuerin, der das Ganze durchaus spanisch vorkommt – die man bei dieser Gelegenheit aber selbst einmal genauer in den Blick nehmen sollte.

Beruhigende Essensgeräusche

Natalie nämlich, die als Kind unter epileptischen Anfällen litt, stets bedroht von der Wiederkehr des Grand Mal, hat durchaus ihre eigenen Gewohnheiten. Sie lebt in einer multifamiliären Beziehung mit einer Tigerkatze, ist verliebt in einen unsteten Stricher, und genervt von ihrem anhänglichen Ex, einem Salinger verehrenden Schriftsteller, den sie vor die Tür gesetzt hat, weil er sie auf enttäuschende Weise zum Gegenstand einer seiner Erzählungen gemacht hat. Als Gegengewicht zu ihrer anstrengenden Arbeit hat sie sich ein Ensemble zerstreuender Aktivitäten zugelegt, die entfernt an das erinnern, was junge Leute heute unter Vermittlung digitaler Lebensbegleiter wohl so tun, aber doch hoffentlich nur entfernt: Beim Joggen hört sie ihre eigenen zuvor aufgenommenen Essensgeräusche ab, sie führt lange Gespräche mit einer „Künstliche-Intelligenz-Dialogmaschine“, und pflegt beim Chatten die Kunst der Zusammenhanglosigkeit, das kühlt den Kopf, und drängt jenes sich bisweilen meldende „aurige Gefühl“ zurück, das früher die großen Anfälle anzukündigen pflegte.

Das Zufallsprinzip beherrscht auch ihre nächtlichen Streifzüge, das sogenannte „Streunen“, das vor allem darin besteht, auf ihrem iPhone Stimmen zu sammeln, am liebsten solche ejakulierender Männer, wobei sie dabei sexuelle Praktiken bevorzugt, die sie mit ihrem Mund ausführen kann. Dass das nicht unbedingt normal ist, weiß Natalie selbst: „Es gab bestimmt Broschüren über die komplexe Störung, die sie verkörperte.“

Paranoia im Erzähllabyrinth

Aber was ist in diesem trickreich und verwinkelten Erzählgefüge schon normal. Normal sind Bücher, denkt Natalie an einer Stelle, in denen immer irgendwann einmal ein Hund bellt. Hier dagegen wird Abendstimmung so beschworen: „Irgendwo in der Erdatmosphäre bellte ein Satellit.“ Mehr als die Lust an einer Geisterbahnfahrt mit durchgeknallten Typen sind es Abweichungen solcher Art, mit der Setz den Leser in seine Welt hinein zieht. In ihnen bleibt die Konvention noch kenntlich, geht jedoch völlig neue und unerwartete Verbindungen ein. Dieses Prinzip bestimmt die kleinsten Einheiten wie Metaphern und Vergleiche. Beispielsweise wenn dem misogynen Herrn Dorm beispielsweise im Kontakt mit seiner Pflegerin ein Geräusch entfährt, „als hätte man ihm gerade mitgeteilt, er habe sich in ein Nest pestkranker Ratten gesetzt“. Oder wenn der leicht erschöpfbare Herr Hollberg während eines gemeinsamen Ausfluges wirkt wie jemand, der eine Waschmaschine auf den Mount Everest geschoben hat. Manche Menschen wiederum sind so ausdruckslos, dass ihr Gesicht „wie ein Goldfischglas für den darin lebenden Schnurrbart erscheint“.

Das gleiche Verfahren treibt auch die Handlung in immer labyrinthischere Wendungen. Was Natalies ehemaliger Autorenfreund bei Gelegenheit erklärt, dass man das Geschehen nicht an sich selbst oder an Wendepunkten aufhängt, sondern an leuchtenden Details, beschreibt das Bauprinzip genau. Mal erscheint ein Gesicht wie der Mond in einem Küchenfenster, mal torkelt ein ölverschmierter Vogel durch ein Zimmer, mal verwandelt sich eine Frau in eine Gitarre. Alles hat Folgen und irgendjemand läuft immer irgendjemand anderem hinterher. So wuchert das Arrangement, das die Figuren verbindet, zu einem undurchdringlichen Netzwerk aus demolierten Zitaten und zufallsgenerierten Zusammenhängen. Je mehr sich Natalie darin verstrickt, desto mehr beschleicht sie ein sanftes Gefühl von Paranoia: „Hatten die anderen gleich zu Beginn schon geahnt, das all das passieren würde?“

Der mit Sicherheit verrückteste Roman dieses Jahres – für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominiert – ist gleichzeitig der, der am verschwenderischsten über die Mittel gebietet, mit der Literatur die Welt eben nicht verdoppelt, sondern neu erschafft. Das Missverhältnis zwischen einnehmenden Fähigkeiten und zweifelhaften Absichten ist seit je charakteristisch für den Typus des Verführers. Wir wissen nicht, was Clemens Setz mit uns anstellt, aber wir können nicht anders, als ihm zu folgen.