An diesem Freitag wird Patrick Modiano siebzig Jahre alt. Passend dazu erscheint der jüngste Roman des Nobelpreisträgers auf Deutsch: „Damit du dich im Viertel nicht verirrst.“

Paris - Ein Mann stiehlt ein Adressbuch, um sich bei dessen Besitzer, dem Schriftsteller Jean Daragane, als Finder einzuschleichen. Der Eindringling interessiert sich nämlich für die Vergangenheit des Autors, zudem kennt er dessen Romanerstling und meint, dass jener Roman mit einem unaufgeklärten Todesfall zusammenhänge. Über die dunkle Geschichte besitzt er sogar Polizeiprotokolle, mit denen er nun Informationen erzwingen will. Aber heimlich erhält Daragane von der jungen Geliebten des Erpressers Kopien der Protokolle. Nur besagt diese Heimlichkeit nicht viel, denn die junge Frau und ihr Liebhaber sind offenbar ein Gangsterpaar.

 

Daragane meidet das dubiose Paar, während er sich in die kopierten Polizeiberichte vertieft und eine Verknüpfung zur eigenen Lebensgeschichte sucht. Etwa vierzig Jahre liegt die Zeit zurück, in der sein erstes Buch erschienen war, ein Kriminalroman. Nun streift er durch Paris, um sich in jener Vergangenheit orientieren zu können, und allmählich erinnert er sich noch weiter zurück, erinnert sich auch an den Jean, der er mit acht Jahren war, ein elternloses Kind, betreut von einer jungen Frau.

Bei Patrick Modianos neuem Roman hat man kaum je den Eindruck, in eine Vergangenheit abzutauchen, stattdessen steigt die Vergangenheit in die Gegenwart herauf.

Notizbücher, Protokolle oder Manuskripte gehören seit jeher zu Modianos Erzählweise, und im neuesten Fall kommt ein Adressbuch hinzu. Die schriftlichen Unterlagen sind jeweils ein Hinweis auf etwas Konkretes, auf etwas halbwegs Glaubwürdiges, das allerdings näher untersucht werden muss. Anhand solcher Untersuchungen und Fahndungen hat Modiano die letzten siebzig Jahre ausgelotet. Aber obwohl er die Protokolle oder die verschiedenen Notizbücher ernst nimmt, geht er mit diesem schriftlichen Material zugleich spielerisch um. Schon durch die motivische Wiederholung wird das Spiel erkennbar. Parallel dazu spielt er auch mit dem Stadtplan von Paris, mit Angaben von Straßennamen und Lokalitäten, und auch in diesem Fall geht es um Spiel und Ernst zugleich, denn mit den Stadtdurchquerungen durchleuchtet er nicht nur Vergangenheiten und Erinnerungen, sondern auch die eng zu den Erinnerungen gehörende Topografie.

Außerdem bietet der immer im ruhigen Ton erzählende, beinahe sprechende Modiano ein weiteres Spiel an, indem er seinen Romanfiguren erlaubt, ihre Namen zu wechseln. Diese Figuren müssen sich verstecken, verstellen, haben etwas zu verbergen, und als Schutzschilde helfen da vor allem veränderte Namen. Die anfangs erwähnte Ganovenbraut namens Chantal heißt eigentlich Josephine, und Annie Astrand, jene junge Frau, die einst dem Kind Jean so viel bedeutete, tritt zwischendurch als Agnes auf. Einem eingeschworenen Leser muss spätestens bei dieser Parisgeschichte auffallen, Modiano suggeriert es geradezu, dass ihm zu Beginn ein Satz Spielkarten genügen. Er mischt die Karten gründlich, zieht einige Blätter aus dem Stapel, und hat dann seine Herzdame oder den frechen Pikbuben, meist auch einen Joker.

Welche Geschichte er diesen Figuren abfordert, ist eine andere Frage, aber durch die Leichtigkeit bei der Vorauswahl gibt er seinen berührenden, schillernden Personen etwas Allgemeingültiges. Interessant ist bei dieser Kartenkonstellation zudem die Verwandtschaft zu Italo Calvinos Erzählung „Das Schloss, darin sich Schicksale kreuzen“, wo die Spielkarten selbst berichten. Dass Modianos Karten keine Nebenrolle spielen, bestätigt der Roman am Ende mit der Herzdame Annie Astrand, die wiederholt Patience legt und den jungen Jean zum Kartenspiel auffordert, bevor sie das Kind stumm verlässt.