Die Erfolgsgeschichte des Musterländles kann ohne die Erfolge von Gottlieb Daimler und Robert Bosch nicht erzählt werden. Doch wie hat alles seinen Anfang genommen? Eine Spurensuche.

Stuttgart - Als im März 1834 ein Baby namens Gottlieb erstmals brüllend auf sich aufmerksam macht, gilt die Postkutsche als Maß aller Dinge. Doch dann bringt die Industrialisierung den Südwesten voran, aus dem kleinen Gottlieb wird der große Daimler. Kurz darauf beginnt in einer unscheinbaren Hinterhofwerkstatt im Stuttgarter Westen eine zweite Weltkarriere: jene von Robert Bosch. StZ-Reporter Erik Raidt erzählt in einem Geschichtsbuch voller funkelnder Geschichten von zwei außergewöhnlichen Karrieren. Es folgen Auszüge aus seinem Buch: Sie zeigen Gottlieb Daimler, der sich nach ersten Lehrjahren im Elsass nun in England versucht, und Robert Bosch, der mehr als 20 Jahre später nach New York aufbricht.

 

Im August 1861 schreibt Gottlieb Daimler einem Onkel nach Schorndorf. Seit Tagen quälen ihn in England Gedanken, die ihn immer wieder einholen und nicht in Ruhe lassen: „Nur eines . . . wird mir wohl mein ganzes Leben hindurch im Weg sein: ich kann nämlich nicht lesen und studieren, solange ich will, sondern sobald ich des Abends zu lange sitze oder mich nur ein wenig anstrengen will, so bekomme ich Schwindel. Das Blut steigt mir in den Kopf und trübt mir den Verstand, daß ich nicht mehr klar denken kann und ich muß es wider meinen Willen aufgeben. Schon einige Male wollte ich es durchaus forcieren, da bekam ich geradezu eine Ohnmacht und Herzklopfen und hatte eine schlaflose, schwermütige Nacht . . . Ich komme mir vor wie ein Vogel, dem die Flügel gegeben sind, der sie aber nicht gebrauchen kann, weil sie ihm gebunden sind.“ Bereits in jungen Jahren leidet Gottlieb Daimler unter Herzproblemen. Mit der Krankheit wird er fortan leben müssen.

Immerhin: die Arbeitszeit in der Fabrik ist für Gottlieb Daimler eine Erleichterung im Vergleich zu der gewaltigen Plackerei in Frankreich. Es sei ihm in Oldham zehnmal lieber als im Elsass, notiert er, man ackere „nur zehneinhalb Stunden“, man sei hier doch Mensch. Die englischen Arbeiter seien ordentliche Leute. Und wenn sie noch so grob aussähen, so seien sie ganz anders, wenn man sich mit ihnen unterhalte. Ein echtes Wochenende gebe es auch. Wenn erst der herrliche Samstagmittag komme, heiße es: „Ledig aller Pflicht hört der Bursch halb 1 Uhr schlagen, muss sein schweres Geld heimtragen und dann nach Manchester fahren.“

Manchester. Dort hört man überall die Musik der Maschinen, dort will der Ingenieur aus Württemberg im Fortschrittsorchester die erste Geige spielen. Aber die Zeit ist noch nicht reif, zunächst muss er sich mit einem Wochenendausflug begnügen. Großstadtluft, Freiheitsduft – Gottlieb Daimler kostet schon im Zug nach Manchester davon, wie es sich anfühlt, jung zu sein und frei von allen großen Erwartungen, die er auch selbst an sich stellt.

Das englische Netzwerk

Der Wagen, in dem er seinen Platz sucht, ist überfüllt, bald sitzt er in einem „Hühnerstall“ in Gesellschaft junger Engländer. Noch holpert sein Englisch, aber als Feldflaschen, Wein und Schinken im Abteil die Runde machen und man den Ausländer auffordert, alles mit zu vertilgen, löst sich seine Zunge. Je näher die Gesellschaft der Großstadt kommt, desto mehr entfaltet der Alkohol seine Wirkung. Das Abteil singt nun „wie die Lerchen“, jetzt stimmt auch Gottlieb Daimler in „Rule, Britannia!“ ein. Das Grölen dringt immer noch durch den Wagen, als der Zug unter Scheppern, Röhren und Quietschen die Vororte der Industriemetropole Manchester erreicht.

Anderntags ist Gottlieb Daimler wieder nüchtern. Seine Gedanken kreisen darum, wie es für ihn weitergehen soll. Zweifel nagen an ihm. Selbst wenn er dank seiner Empfehlungen eine Anstellung bei einer der großen Fabriken finden würde, erwarteten ihn dort keine ruhmreichen Tage. Als Zeichner nähme man ihn wohl nicht, er müsste wohl irgendeinem alten Arbeiter als Gehilfe zur Hand gehen. Aus der Ferne hatte England für ihn wie ein einziges großes Versprechen auf eine glanzvolle Karriere ausgesehen. Das Land der Verheißung. Nun jedoch rumort die Ungeduld in ihm, weil es nicht vorangeht.

Oldham darf auf keinen Fall seine Endstation werden. Im Herbst 1861 setzt Gottlieb Daimler seine Hoffnungen auf sein Netzwerk in England. Ein Landsmann soll ihm helfen. Während sich halb Oldham bei einem Dorffest besäuft, fährt Gottlieb Daimler nach Liverpool, um die Chancen auf einen Jobwechsel auszuloten. Im Hafen der Stadt lernt er das Staunen: Die Schiffe in den Docks bildeten mit ihren Masten einen Wald, der den Betrachter eine Stunde lang in seinen Bann ziehe. So etwas, schreibt er nach Schorndorf, habe er in seinem Leben noch nie gesehen.

Am meisten aber beeindruckt Gottlieb Daimler ein Schiff im Hafen, das mit keinem anderen vergleichbar ist: Die Great Eastern ist das größte Schiff der Welt. Gegen sie nehmen sich für Gottlieb Daimler alle anderen Schiffe aus wie winzige Davids neben dem Riesen Goliath. Das muss er von Nahem sehen, wenn ihm schon bedauerlicherweise die Zeit fehlt, an Bord zu gehen. Gottlieb Daimler zahlt sechs Pence, besteigt ein Dampfboot und umrundet die Great Eastern. Viele Menschen sehen in dem Schiff ein modernes Weltwunder, einen schwimmenden Koloss, der von magischen Kräften über das Meer bewegt wird. Gottlieb Daimler jedoch sieht in der Great Eastern lediglich ein weiteres Beispiel dafür, was der menschliche Geist auf dem Feld der Technik erreichen kann.

Die Bergbaustadt Oldham wirkt auf ihn nun noch rückständiger. Als ihn dort im Betrieb sein Meister, „ein altes englisches Vieh“, eines Morgens wegen einer halbstündigen Verspätung wieder heimschicken will, fasst Gottlieb Daimler einen Entschluss. Er geht – für immer.

Bosch sucht den Erfolg in den USA

Am 24. Mai 1884 trübt keine Wolke den Himmel über Rotterdam. Im Hafen liegt ein Dampfschiff der Holland-America-Line, das am Mittag ablegen soll und in zwei Wochen, falls alles planmäßig verläuft, sein Ziel erreicht haben wird. Auf dem Zwischendeck haben sich rund 200 Menschen aus allen möglichen Ländern versammelt. Das Schiff füllt sich allmählich, die Passagiere suchen ihre Kajüten. Unter ihnen befinden sich, wie Robert Bosch in seinem Tagebuch festhält, „zehn heilige Schwestern vom Rhein, die ziemlich sorglose Gesichter machen“, und noch mal so viele Mädchen im Alter von zwölf bis 15 Jahren, die in der Neuen Welt ebenfalls hinter Klostermauern leben sollen.

Robert Bosch hat weltlichere Pläne, in seiner Tasche steckt ein Empfehlungsschreiben für Thomas Alva Edison. Bosch ist 22 Jahre alt und kühn genug, um den großen Schritt über den Atlantik zu wagen. Nach Amerika, wo die Musik des Fortschritts inzwischen lauter spielt als im alten Europa. Schon am ersten Tag macht er sich mit einigen Mitreisenden an Bord bekannt. Viele Holländer sind an Bord des Dampfers Pieter Caland, unter anderem der junge Gips, der Sohn eines Schnapsfabrikanten. Gips ist selbst der beste Werbeträger für das Familienunternehmen, er hat einen Korb voll Rum und anderer hochprozentiger Getränke mitgebracht und erfreut sich während der Überfahrt konstanter Trunkenheit.

Die Stimmung bei der Abfahrt ist ausgelassen. Das Zwischendeck, so beobachtet Robert Bosch, tanzt bald „nach einer Handharmonika auf Tod und Leben“. Er selbst macht sich mit einem holländischen Landwirt bekannt, der zwei Jahre in Amerika bleiben will und schon bei der Abfahrt von seiner Rückkehr träumt – zu Hause wird seine Verlobte auf ihn warten. Er ist versprochen, der Mann scheint sein Leben wohlsortiert zu haben, so weit ist der junge Feinmechaniker aus Ulm noch nicht: „Könnte den Fischblütigen fast beneiden um die Sicherheit, mit der er an sein kommendes Glück glaubt. Aber wo ein Holländer hoffen kann, kann’s ein Schwabe auch.“ Robert Bosch hat den Dampfer nicht bestiegen, um in Amerika klein beizugeben. Viele Auswanderer besitzen die Hoffnung auf ein besseres Leben, als sie Europa verlassen, um in Amerika bei null anzufangen.

Schon am zweiten Tag der Reise, die Pieter Caland befindet sich noch im Englischen Kanal und nicht auf offener See, sieht Robert Bosch ein Auswandererschiff. Auf dem Atlantik tobt ein harter Konkurrenzkampf. Die Reedereien verdienen gut am Geschäft mit der Hoffnung, Tausende buchen ein Ticket für ein besseres Leben. Sie wollen das Elend hinter sich lassen, doch nicht jeder Traum erfüllt sich, und manche Passagiere erreichen ihr Ziel nie. Auf der Atlantikpassage fährt das Risiko mit. Ein unruhiger Magen ist das geringste Übel. „Die heiligen Schwestern werden seekrank“, notiert Robert Bosch in seinem Tagebuch, „zur großen Freude der Möwen im Hinterwasser.“

Deutsche Abschiedslieder an Bord

Auch Bosch selbst fühlt sich nicht immer auf der Höhe. Während vielen Passagieren an Bord des Dampfers der Appetit vergeht, kuriert sich der Schnapsfabrikantensohn mit einem Hausmittel: Cognac auf Zucker. Bei rauer See fegen Wellen über das Deck, das Meer ist dunkelgrün. Es regnet, die Luft in den Kabinen ist dumpf und heiß, und Robert Bosch muss sich gegen beide Seiten der Kabinenwände stemmen, um nicht hin- und hergeworfen zu werden.

Das schlechte Wetter verzieht sich so schnell, wie es gekommen ist. Nur noch wenige Tage bis New York. Die Deutschen an Bord singen viel, meist sind es Abschiedslieder. Dann und wann tauchen Segelschiffe auf und verschwinden wieder. Die Zeit an Bord fließt bei Gesellschaftsspielen, Gesprächen und Besäufnissen dahin, doch Robert Bosch kennt keine Langeweile. Noch als Soldat hat er gelernt, geduldig zu warten, sich ins Unvermeidliche des Nichtstuns zu fügen und seiner Fantasie freien Lauf zu lassen. In diesen Stunden begibt sich Bosch auf „Gedankenrevue“. Es habe „auch sein Schönes, so stundenlang auf dem Rücken zu liegen und nach den Sternen zu gucken“.

Pfingsten soll an Bord mit einer internationalen Bowle begossen werden, zu der sich Amerikaner, Engländer, Deutsche und Holländer angesagt haben. Der Schnapsfreund ist auch dabei. Für Robert Bosch ist es das dritte Pfingstfest, das er nicht in Ulm verbringt, sein erstes auf hoher See. Am nächsten Tag kommen Eisberge in Sicht, Robert Bosch sieht einen Koloss, „voll von der Sonne beschienen und weiß wie Zucker“. Je näher Robert Bosch seinem Ziel kommt, desto stärker drängt sich ihm die Frage auf, ob es die richtige Entscheidung war, nach Amerika zu gehen. Womöglich würden seine Empfehlungsschreiben dort wertlos sein, und er müsste wieder ganz unten anfangen – „vielleicht als Kellner oder Bäckerjunge?“

Dann endet alles Spekulieren. Es ist der 5. Juni 1884, das Wetter ist ruhig, die See glatt, wie mit Öl übergossen – Land in Sicht! Und „zwei Herden Enten, wie sie im Neckar nicht schöner sein können“. Schnell vergisst Robert Bosch seine Heimatgefühle und ergibt sich dem Staunen des Neuankömmlings: Long Island, ein palastartiges Badhotel, nichts als Schiffe und schließlich die Brooklyn Bridge. Die Brücke führt mitten in das Herz von Manhattan. Der Bierbrauersohn aus Ulm ist überwältigt von der neuen Welt: „Kommt! Seht!“

Erik Raidt: „Gottlieb Daimler und Robert Bosch – Von hier aus wird ein Stern aufgehen“. Theiss Verlag, 280 Seiten, 24,95 Euro.