Mit der neuen Musicalproduktion „Chicago“ spielt das Palladium Theater in Stuttgart volles Risiko – und gewinnt, meint der StZ-Kritiker Tim Schleider. Herzschmerz und Happyend kommen in dem Stück allerdings nicht vor.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Mannomann, ist das alles böse! Wer durch häufige Theaterbesuche im Stuttgarter SI-Zentrum den Eindruck gewonnen hat, in einem Musical gehe es im Großen und Ganzen um Liebe, Abenteuer und heile Welt, der wird sich nun umorientieren müssen: „Chicago“, die neueste Produktion im Palladium Theater, zieht ganz neue Saiten auf. Kein Herzschmerz und kein Happy End. Keine Kulissen voller Poesie und keine atemberaubende Lianen-Akrobatik. Keine Oldies zum Mitklatschen und kein junges Glück, das sich zum Schluss doch noch findet. Und darum summa summarum auch weder „ganz große Gefühle“ noch „Gänsehaut pur“.

 

Nein, all das ist im Palladium Theater vom Spielplan erst mal abgesetzt. Stattdessen gibt es lupenreinen, mitreißenden, aber eben auch bitterbösen Broadway. „Chicago“ von John Kander und Fred Ebb, uraufgeführt 1975 in New York und 1996 ebendort aufgepeppt zum preisgekrönten Mega-Erfolg, das ist auch in Möhringen endlich mal Musical für überzeugte Erwachsene. Wo anderswo geschwebt wird, da wird hier gestampft. Wo anderswo gesäuselt wird, da wird hier gezischt. Wo anderswo das Schmachten herrscht, wird hier belogen, betrogen und gezickt. Ja, Stage Entertainment spielt neuerdings auf volles Risiko – der Wechsel von „Mamma mia“ zu „Chicago“ ist etwa so, als wenn man beim Fernsehen von der Augsburger Puppenkiste zu „Breaking Bad“ switchen würde.

Für bonbonbunte Kulissen ist auf der Bühne schon deshalb kein Platz, weil sich dort das großartige Orchester unter der Leitung von Klaus Wilhelm ordentlich breitgemacht hat. Und vor und neben dessen Tribüne ist eigentlich alles schwarz – wenn nicht gerade der eine oder andere Scheinwerfer aufstrahlt und plötzlich irgendwo das 19-köpfige Ensemble zum Leuchten bringt – von den Hauptrollen bis zum letzten Mann durchweg Hochkaräter ihrer Zunft. Alles, was sie an diesem Abend darzustellen haben, Polizisten, Ärzte, Liebhaber, Tote, Fotografen, all das stellen sie allein durch ihr Spiel dar. Das Stück kommt allein aus dem Ensemble, aus dessen Gesten und Bewegungen, aus dessen Wort und Witz, aus dessen Gesang und Tanz. Musical als reines Theater. Für Fans ein Fest.