Vor neun Monaten fiel eine Sturzflut mit unvorstellbarer Zerstörungskraft über Braunsbach ein. Wie hat sich der 1000-Einwohner-Ort verändert? Die Geschichte einer Katastrophe. Teil 1: das Unglück

Reportage: Robin Szuttor (szu)

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Braunsbach - Am 26. Mai 2016 bildet sich 800 Kilometer jenseits der portugiesischen Küste ein kleines Tief über dem Nordatlantik. Da bleiben Braunsbach im Hohenlohischen noch drei ruhige Tage.

Am 27. Mai ist der Wirbel, dem die Meteorologen den Namen Elvira geben, zu einem stattlichen Tiefdruckgebiet angewachsen, das Süddeutschland mit schwülwarmer Luft vom Mittelmeer überzieht. Das Besondere an Elvira ist ihre Trägheit. Sie bewegt sich kaum. So kann sich das Hochspannungsszenario über Tage aufladen: Feuchtigkeitsschwangere Warmluft setzt sich in Bodennähe fest, der Temperaturunterschied zur Höhe wird immer größer, die Lage immer anfälliger für Gewitter.

Am 29. Mai schwächt sich Elvira ab, um übers Meer Richtung Südengland zu entfleuchen. Aber inzwischen hat sich eine kräftige Tochter abgespalten. Und die junge Elvira bleibt fett im Nest hocken. In ihren Wesenszügen ist sie ganz die Mutter: geringes Druckgefälle, wenig Luftbewegung und hochgradig labil.

Weiterer Zündstoff kommt hinzu: Hebungsprozesse. Luftmassen steigen auf, von der Sonne erhitzt. Oder sie weichen vor topografischen Hürden wie der Schwäbischen Alb in die Höhe aus. Zudem schiebt sich im Machtbereich der rotierenden Elvira junior kältere Luft aus dem Westen unter die mediterranen Warmluftpakete, die dann ebenfalls aufsteigen und kondensieren. Das bringt den Wolkenkessel oben irgendwann endgültig zum Bersten.

Die Himmelsschleuse öffnet sich

Gegen 17 Uhr suchen erste Gewitterzellen die Ostalb und Franken heim. Um 18 Uhr sind sie schon enger zusammengerückt, erfassen jetzt weite Teile Ostwürttembergs. Zwischen 18 und 19 Uhr wird Braunsbach von den inzwischen kettenartig organisierten Gewitterlinien angegriffen. Und dann öffnet sich die Himmelsschleuse: Es ist nicht nur der extrem starke Regen. Er hört auch nicht mehr auf. Elvira denkt nicht dran weiterzuziehen. So schüttet sich der ganze Wolkenauflauf über einem kleinen Gebiet aus. Ab 40 Liter Regen pro Quadratmeter und Stunde sprechen Meteorologen von Unwetter. Um Braunsbach sind es bis zu dreimal so viel – vier Stunden lang. Auf der Hochebene bei Orlach verwandeln sich Äcker in Seenlandschaften. Dann löst sich der Stöpsel.

In Orlach hat Angela Spitzner, 55, an diesem Abend Besuch von ihrer Schwester. Die schaut aus dem Fenster: „Wahnsinn, wie das Wasser runterströmt.“ Spitzner meint nur: „Jaja, das ist manchmal so.“

So war es noch nie. Bald müssen die Schwestern zusehen, wie sich ein blauer Kleinwagen von Braunsbach kommend den Buckel hochquält im Kampf gegen den Wasserstrom. Er hat es schon fast in den Ort und auf den Berg geschafft. Aber dann rutscht er nach unten wie ein Papierschiffchen. Man sieht noch, dass die Bremslichter aufleuchten. Aber nichts zu machen. Schließlich verschwindet das Auto aus dem Blickfeld. Kurze Zeit später sieht Spitzner unten am Waldrand ein weißes Auto, das der Flut eine Zeit lang standhält. Plötzlich kippt der Wagen und treibt weg. Spitzner schreit: „Um Gottes willen, jetzt stürzt er in die Klinge.“ Dann gondelt auch der eigene VW Polo vor der Garage davon, danach der Ford Mondeo ihres Mannes. Ihr Haus steht jetzt mitten in der Flutwelle, unter der Eingangstür kommt die braune Suppe schon durch. „Ich hab nur noch gebetet, dass das Haus stehen bleibt.“

Dieser Abend wird den Ort radikal verändern

In dem weißen Auto, das sie Richtung Klinge davontreiben sieht, sitzt Peter Schwarz, 55. Er ist an diesem Abend mit Frau und Tochter beim Schwager grillen. Kurz nach halb acht ruft Sohn Nico, 16, an: „Kannsch du mich holen?“ Er ist beim Footballtraining der Titans im 30 Kilometer entfernten Crailsheim, der Vater bringt ihn immer hin und holt ihn wieder. Als Schwarz in die Hauptstraße biegt, ist der Orlacher Bach noch im Bett, aber ein paar Bäume stehen schon im Wasser. „Wenn das mal nicht noch einen Einsatz gibt heute“, denkt Schwarz. Seit 37 Jahren ist er bei der Feuerwehr. Ein alter Hase, die Jungen sagen „Vatterle“ zu ihm. Er fährt den Buckel hoch Richtung Orlach. Schon nach der zweiten Spitzkehre kommt „die Bria ra“. Die halbe Straße steht unter Wasser.

In diesem Moment weiß noch keiner, dass dieser Abend den Ort radikal verändert wird. In den nächsten Stunden werden die Bilder seiner Verwüstung über die Nachrichtensender rund um den Globus gehen. Braunsbach, das war bis zum 29. Mai 2016 ein kleiner Ort im Hohenloher Land, von dem man vielleicht mal gehört hatte, weil die mit 185 Metern höchste Talbrücke Deutschlands vor seiner Haustür steht. Nach dem 29. Mai 2016 ist Braunsbach Sinnbild für die Katastrophe, die einen aus dem Nichts überfallen kann.

Als Schwarz sich gerade die Straße nach Orlach hochkämpft, ist Frank Harsch, 44, im Rathaus. Der Bürgermeister war noch bei der Probe der örtlichen Theatergruppe, hat danach noch ein paar E-Mails gecheckt und will gerade nach Hause aufbrechen. Es regnet so stark, dass er noch wartet. Er schaut aus dem Fenster im Obergeschoss. So einen Regen hat er schon lange nicht mehr erlebt. Und plötzlich überkommt ihn ein ganz seltsames Gefühl. Wie die Leute sich verhalten draußen. Was für eine merkwürdige Stimmung. Autofahrer schleichen vor zum Marktplatz, kommen zurückgebraust, drehen dann wieder um. Wie aufgescheuchtes Wild. In ihren Gesichtszügen ist etwas Maskenhaftes, eine Art Blödigkeit. Dann lassen sie plötzlich alles stehen und liegen. Als ginge die Welt unter.

Das Auto steht schon 20 Zentimeter im Wasser

Je weiter Peter Schwarz die Straße nach Orlach hinauffährt, desto schlimmer wird die Lage. Das Auto steht jetzt gut 20 Zentimeter im Wasser, ständig tut es laute Schläge am Unterboden. Zurück in den Ort rollen? Stehen bleiben? Weiterfahren? Schwarz sagt sich: „Scheiß der Hund, ich fahr nuff.“

Bald kommt die Flut flussbreit herunter. Die Pferdestärken eines VW-Busses gegen die Natur. Da ist kein Fortkommen mehr. „Wenigstens die Handbremse hält, das ist gut“, denkt Schwarz. Da treibt ein 1000-Liter-Wasserfass auf das Auto zu. Ein heftiger Schlag – „und dann ging’s schnell.“ Das Auto wird umgeworfen, überschlägt sich, treibt auf die Klinge zu. „Lauter braune Bria um mich rum.“ Schwarz denkt noch die Worte: „So, jetzt isch’s aus.“ Aber vor dem Sturz in 20 Meter Tiefe bohrt sich die Front des VW-Busses in den breiten Ast eines Baums. Er hält das Auto fest.

Schwarz weiß instinktiv: Er muss da raus. Mit seiner Vesperbox schlägt er die ramponierte Fahrerscheibe ein. Drückt mit dem Ellbogen die Splitter weg. Hangelt sich durchs Fenster auf einen Baum. Sieht die tosende Flut unter sich. Klammert sich an den Stamm wie ein Affe. Hat das Gefühl, der Baum wird auch schon schwammig. Ein Auto wird vorbeigetrieben, streift ihn noch, bevor es die Klippe runterstürzt, die sich inzwischen in einen Wasserfall verwandelt hat. Ein zweites Auto, ein drittes. Schwarz sieht ein „Stützle“, wie er sagt – einen großen Stein oder Wurzelwerk, das aus dem Boden ragt. Er sieht, das Stützle hält der Flut stand. Springt drauf. Springt von dort aus auf die Straße. Liegt flach auf dem Asphalt, komplett unter Wasser. Rollt sich einige Male bis auf die andere Straßenseite, wo die Flut nicht so hoch ist. Runter von der Straße in den Wald. Zum ersten Mal kann er wieder über den Moment hinaus denken. Er scheint es geschafft zu haben. Er hat überlebt. Ohne einen Kratzer, wie er ungläubig feststellt. Er geht den Schlossberg runter in den Ort. Aber das ist nicht mehr das Braunsbach, das Schwarz kennt.

Highway der Sturzflut

Der Bürgermeister steht am Fenster und begreift nicht, was da vor sich geht. Als er dann auch noch seinen VW wegschwimmen sieht, weiß er zumindest eins: „Hier passiert gerade etwas Unvorstellbares.“ Die Hauptstraße ist jetzt ein Highway der Sturzflut. Alarmanlagen von Autos hupen. Unten hört Harsch ein Grollen: Die Wassermassen drücken gerade die Fenster des Standesamts ein. Es gibt private Handyvideos, die zeigen, wie gewaltig und schnell und unwiderstehlich der reißende Fluss in den Ort einfällt. Da hilft nichts mehr. Da kann man nur stumm filmen.

Autos werden zu federleichtem Treibgut. Die Flut wirbelt die Wagen um ihre eigene Achse, als wäre sie zum Spielen aufgelegt, schleudert sie gegen Häuser wie Bälle, um sie im Eiltempo weiterzuspülen. Ein ohrenbetäubendes monotones Rauschen beherrscht Braunsbach. Wenn irgendwo ein Stück Haus wegbricht oder Baumstämme Schaufensterfronten zerdrücken, um sich in Büros einzunisten, fällt das akustisch gar nicht ins Gewicht. Die Flut hat etwas Unwirkliches. Als hätte ein grimmiger Zauberer die wütenden Wogen entfesselt und sie durch die Schlucht den Berg hinab ins märchenhafte Braunsbach gesandt. Doch die Flut trägt nichts Böses in sich. Sie ist einfach nur da. Bahnt sich mit der großen Gleichgültigkeit der Natur ihren Weg und frisst dabei einen Ort auf.

Peter Schwarz kommt den Schlossbuckel runter und klingelt tropfnass bei seinem Bruder. Er ruft bei seiner Frau an: „Du, den Nico muss jemand anders holen.“ – „Wo bisch’n du?“ Er erklärt kurz, was passiert ist, dann trocknet er sich ab, zieht ein paar zu große Sachen des Bruders an und versucht, Ruhe zu finden. Als Feuerwehrmann hat er schon eine Frau aus dem Kocher gerettet, eine andere musste er aus ihrem Auto schneiden, das unter einem Sattelschlepper verkeilt war. Er hat 13 Tote geborgen, darunter eine Wasserleiche. Aber sowas hat er noch nicht erlebt.

Braunsbach hat einfach Pech

Braunsbach hat einfach Pech. Es gibt an dem Abend auch anderswo Unwetter mit extremen Niederschlägen. Aber in Braunsbach liegt die Linie der Gewitterzellen genau parallel zum Einzugsgebiet der beiden Bäche. Sie bekommen alles ab. Irgendwann kann der Boden kein Wasser mehr aufnehmen. Zudem ist die Geländestruktur mit sehr steilen Hängen und sehr flachen Ebenen wie gemacht für Bodenerosion, Rutschungen und Baumentwurzelungen.

Wie ein Abfahrtsläufer gewinnt die Flutwelle auf dem Weg ins Tal an Fahrt und rast ähnlich schnell auf Braunsbach zu – unberechenbar in ihrer Zerstörungskraft. Zeitweise wächst die Woge auf drei Meter Höhe und pumpt 150 000 Liter pro Sekunde durch den Ort. Im Schlepptau hat sie 8000 Kubikmeter entwurzelte und abgebrochene Bäume, Geröll und totes Gehölz, das sich über viele Jahrzehnte in der Klinge angesammelt hat. Und diese Frachtlawine ist noch gefährlicher als das Wasser.

Neun Braunsbacher Feuerwehrleute schaffen es bis zum Gerätehaus. Drei von ihnen fallen gleich aus, weil es ihren Mannschaftswagen wegspült und sie sich gerade noch zurück ins Feuerwehrheim retten können. Die sechs Kameraden im großen Fahrzeug entkommen zwar der Welle, aber dann können sie auch nur abwarten und von sicherer Position aus zusehen, wie Bäume abknicken, Autos vorbeischwimmen – manchmal noch mit Menschen drin. „Macht doch was“, rufen umstehende Leute. Aber was machen gegen diese uferlose Gewalt als kleiner Mensch mit ein bisschen Feuerwehrausrüstung ? Über Funk gibt der Löschzugführer seinen ersten Lagebericht durch: „Schätzungsweise 15 Tote.“ Glücklicherweise irrt er sich.

Einem Mann im Rollstuhl steht das Wasser bis zum Hals

Einen Musiker aus Mosbach treibt die Flutwelle in seinem Auto den Hang hinab durch ganz Braunsbach bis runter in den Kocher, wo er fast einen Kilometer weit bis vor Döttingen treibt. Dann kann er sich befreien und nach Braunsbach zurücklaufen.

Einen alleinstehenden Mann im Rollstuhl überrascht die Sturzflut im Wohnzimmer. Das Wasser steigt so schnell, dass ihm kein Ausweg mehr bleibt. Als die Feuerwehr ihn rettet, steht dem traumatisierten Mann das Wasser bis zum Hals.

Ein Schäfer aus dem Teilort Steinkirchen verliert 100 Tiere, er findet sie später in Häusern oder auf dem Feld verstreut.

Einen Familienvater überfällt die Flut in der Garage, er kann sich schwer erschöpft über den Lichtschacht retten.

Im Teilort Jungholzhausen drückt eine angespülte Betonplatte einen Mann unter sein Auto. Er droht zu ertrinken. Sein Schwiegersohn und ein herbeigeeilter Landwirt schaffen es, ihn rauszuziehen.

Eine Familie verharrt Stunden in ihrem einsturzbedrohten Haus. Der obere Stock ragt wie ein Kranausleger meterweit über die Flut, das Erdgeschoss ist wegrasiert. Irgendwann in der Nacht werden sie aus ihrer Lage befreit und in die Ilshofener Arena gefahren, wo die Rinderunion sonst ihr Fleckvieh versteigert. Dort ist inzwischen eine Notunterkunft eingerichtet für alle, die kein Obdach mehr haben. Der 29. Mai 2016 webt Stoff für Geschichten, die man sich in Braunsbach noch über Generationen weitererzählen wird.

Peter Schwarz sitzt in seinen zu großen Kleidern auf dem Sofa und kann nichts tun. Die Flut hat das Haus seines Bruders von allen Seiten eingeschlossen. Was in dem Dorf jetzt vor sich geht, will sich Schwarz lieber nicht vorstellen. Was gerade mit seinem Lädle und seinem Haus am Marktplatz passiert. Seit 40 Jahren ist der kleine Supermarkt der Ortsmittelpunkt. Sein Vater hat damals aus zwei Scheunen – die eine war das Milchhäusle, die andere ein Kohlenlager – seinen Tante-Emma-Laden gemacht. Blumen gab’s dort auch, die Filiale der Handels- und Gewerbebank übernahm er gleich noch mit, und dann auch noch die Vertretung der Kaufmännischen Krankenkasse. Schwarz senior war sehr geschäftstüchtig und umtriebig. Sein Motto: „Du musst einem eine Kuckucksuhr verkaufen und Vogelfutter noch dazu.“ Ist sein Lebenswerk jetzt weggeschwemmt? Gegen ein Uhr in der Nacht hat sich die Sturzflut beruhigt, und Peter Schwarz kann versuchen, einen Weg zu seinem Haus zu finden. Falls noch etwas davon übrig ist.