Wenn man ein Instrument lernt, verändert sich das Gehirn. Die Übung zeigt Wirkung. Macht sich das auch bei anderen kognitiven Fähigkeiten bemerkbar? Darüber streiten Forscher, seit der Mozart-Effekt entdeckt wurde: Der besagt, dass schon das Hören von Musik schlauer macht.

Stuttgart - Wenn Rita Kaufmann Wagners „Siegfried“ mit den Opernsängern zur Probe durchspielen muss, von Anfang bis Ende, ohne Pause, dann sind das sechseinhalb konzentrierte Stunden. Die Konzertpianistin des Nürnberger Staatstheaters spielt die Noten des Orchesters großteils aus dem Kopf und teilweise vom Blatt und behält gleichzeitig den Dirigenten im Blick und die Aktivitäten der Sänger im Ohr. Ihre beiden Hände spielen parallel verschiedene Töne und Rhythmen, und ihr Gehirn beschäftigt sich zusätzlich mit anderen Tönen und Rhythmen – denen der Sänger. „Das geht nur, wenn ich ausgeschlafen bin“, gesteht die 40-jährige Konzertpianistin aus Regensburg.

 

Pianisten verfügen über erstaunliche motorische Fähigkeiten – und sind allein deshalb beliebte Forschungsobjekte. Hirnforscher finden bei ihnen vergrößerte Strukturen in den für koordinative Leistungen wichtigen Hirnbereichen. Pianisten haben zudem dickere Nervenstränge dort, wo die beiden Gehirnhälften miteinander verbunden sind – und natürlich sind auch die Areale ausgeprägt, die für die Koordination der Hände und das Erlernen von Bewegungsabläufen zuständig sind. Sie können zudem gleichzeitige Reize verschiedener Sinne besser verarbeiten, in der Wissenschaft spricht man hier von einer verbesserten sensorischen Integration.

Das ergab eine Studie zweier Forscherinnen des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik in Tübingen 2011. Mit einem Magnetresonanztomografen beobachteten sie, wie Pianisten und Nichtmusiker auf winzige Ungleichzeitigkeiten zwischen Tönen und Handbewegungen beim Klavierspiel reagierten. Die Musiker zeigten ein feines Gespür dafür, wie Tastenbewegungen und Töne zusammenhängen, während Nichtmusikern nicht ganz synchrone Bewegungen weniger auffielen. Der Hirnscanner zeigte bei Musikern verstärkte Fehlersignale in einem Schaltkreis, der sich durch das eigene Spiel ausbildet.

Vielleicht sind die schlaueren Menschen musikalischer?

Aber nur weil das Gehirn eines Musikers andere Ausprägungen aufweist, heißt das nicht, dass diese durch das Musizieren entstanden sind. Was ist hier Ursache, was Wirkung? Diese Frage lässt sich in allen Studien, die das Gehirn bereits aktiver Musiker untersuchen, nicht endgültig beantworten. Vielleicht hatten diese bereits von ihrer Veranlagung her besser ausgebildete oder vernetzte Hirnstrukturen und sind deshalb Musiker geworden?

Dieses Problem begleitet auch die meisten Studien zur Frage, inwiefern Musizieren zusätzliche Vorteile bringt. Macht es uns in irgendeiner Form sozialer oder klüger, wie viele behaupten? Wenn musikalische Kinder bessere kognitive Fähigkeiten aufweisen, sagt das noch nichts darüber aus, wie dieser Zusammenhang entstanden ist. Es wäre ebenso möglich, dass musizierende Kinder häufig aus bildungsnahen Elternhäusern stammen, entsprechend gefördert werden und schon deshalb besser in Intelligenztests abschneiden.

Wie heiß dieses Thema diskutiert wird, mussten die Forscher um Samuel Mehr von der Harvard Graduate School of Education erfahren. Sie verwiesen auf methodische Probleme bei nahezu allen Studien zum sogenannten Mozart-Effekt, der auf eine Untersuchung aus dem Jahr 1993 zurückgeht, in der Probanden allein durch das Anhören einer Mozart-Sonate in Intelligenztests besser abschnitten als zuvor. Mehr und seine Kollegen fanden 2013 nur fünf Studien, die auf Experimenten beruhen und belastbare Aussagen zu Ursache und Wirkung erlauben. Nur eine von ihnen zeigte einen leicht positiven, statistisch aber nicht bedeutsamen Effekt des Musizierens auf andere Fähigkeiten. Auch Mehrs Experiment, in dem er Kinder per Los in zwei Gruppen teilte und eine Gruppe sechs Wochen lang zur musikalischen Früherziehung schickte, ergab keinen Effekt auf die kognitiven Fähigkeiten. „Unsere Studie hat aber nicht ergeben, dass musikalische Erziehung keine kognitiven Vorteile bringt“, betont Mehr. Nur in diesem Fall von kurzzeitiger musikalischer Früherziehung habe sich kein Effekt gezeigt.

Eine Stunde üben pro Woche macht noch keinen Meister

Das lag vielleicht an der fehlenden Intensität. Das zumindest lässt eine Studie der Psychologin Annemarie Seither-Preisler von der Universität Graz gemeinsam mit dem Neurologen Peter Schneider von der Neurologischen Klinik Heidelberg vermuten. Sie begleiten seit sechs Jahren 145 Kinder. Eine Gruppe erhält keinen Instrumentalunterricht, eine Gruppe nimmt seit Studienbeginn im Rahmen eines Schulprojekts eine Instrumentalstunde in der Woche, und eine dritte Gruppe spielt privat ein Instrument. Schon nach dem ersten Jahr zeigten sich deutliche Effekte – aber vor allem bei jenen, die intensiver üben. „Eine Stunde pro Woche scheint zu wenig zu sein“, sagt Seither-Preisler.

Schneider hat bereits 2002 die Gehirne erwachsener Musiker untersucht und eine vergrößerte Querwindung im auditorischen Kortex gefunden. „Bislang wusste man aber nicht, ob das ein Begabungs- oder ein Trainingseffekt ist“, so Seither-Preisler. In ihrer neuen Studie konnten die Forscher aus der Größe dieser Struktur vorhersagen, wie sehr die Kinder zum Üben motiviert sind: Kinder, bei denen diese Struktur größer war, entwickelten sich im Laufe der Studie zu motivierteren Musikern. „Die Kausalität ist also andersherum als gedacht“, sagt die Psychologin. „Wir sehen hier eher einen Einfluss der Begabung.“ Oder mutiger gesagt: man kann musikalische Begabung womöglich messen.

Dass Übung insgesamt der entscheidende Faktor für das Können eines Musikers ist, schien eine berühmt gewordene Studie des Psychologen Anders Ericsson von der Florida State University aus dem Jahr 1993 zu belegen. Er befragte 20-jährige Violinschüler einer Musikakademie sowie deren Lehrer. Die besten Schüler hatten mehr als 10 000 Übungsstunden angehäuft, die guten Spieler knapp unter 8000, die am wenigsten begabten nicht einmal 5000 Stunden. Ericssons Schlussfolgerung: Übung macht den Meister.

Musik hören, nur weil es Spaß macht?

„Tut uns leid, ihr Streber, Talent zählt!“, so reagierten die Psychologen David Hambrick und Elizabeth Meinz der Michigan State University nach ihrer Studie 2010, die ergab, dass ein starkes Arbeitsgedächtnis bei Pianisten entscheidend für die Fähigkeit ist, vom Blatt zu spielen. Das Arbeitsgedächtnis gilt ebenso wie die Intelligenz als weitgehend angeboren und ist durch Training nur wenig zu beeinflussen. Etwas versöhnlicher sind die Ergebnisse einer Studie Hambricks mit Elliot Tucker-Drob von der University of Texas. Sie untersuchten die Bedeutung von Talent und Übung anhand von Daten von 850 Zwillingspaaren. In der Tat spiele die Veranlagung eine große Rolle, so die Erkenntnis, die aber exponentiell mit dem Üben steige. Wer also ein perfekter Musiker werden wolle, brauche neben Veranlagung eine hohe Bereitschaft zu üben.

Auch Konzertpianistin Rita Kaufmann hält die Gabe, gut vom Blatt zu spielen, für weitgehend angeboren. „Das kann man nicht trainieren“, so ihre Beobachtung aus der Praxis. Ihr sei das stets leichtgefallen. Aber es scheint noch andere Faktoren zu geben, die jemanden zu einem guten Musiker machen: Alfred Brendel, einer der größten lebenden Pianisten, spiele beispielsweise nur sehr mäßig vom Blatt. Vielleicht müsse er länger üben, um Stücke auswendig zu lernen, vermutete sie.

Auch Samuel Mehr rät, nicht zu sehr auf potenzielle Transferleistungen der Musik zu schielen, sondern sie als Wert an sich anzuerkennen: „Jede einzelne Kultur auf der Welt macht Musik, es hat etwas mit dem Menschsein zu tun. Wir unterrichten Shakespeare in der Schule ja auch nicht deshalb, damit unsere Kinder bessere Abschlussprüfungen machen, sondern weil wir glauben, dass Shakespeare wichtig ist.“