Niederbayern war einmal das Armenhaus des Freistaats. Heute hat die Region bei nahezu allen Wirtschaftsdaten einen Spitzenplatz in Europa erarbeitet und es herrscht Vollbeschäftigung. Über einen märchenhaften Aufstieg, eine große Party – und die Angst vor dem Verfallsdatum.

Dingolfing/Freyung - Sie fliegen. Geschwindigkeit: sechzig Meter pro Stunde. Reisehöhe: dreißig, vierzig Zentimeter, eben so, dass die bloßen Arme hinabreichen zum Boden und stöbern können im borstigen grünen Blattwerk. Niederbayern ist das größte Anbaugebiet für Gurken in Europa, für solche zum Einlegen genauer gesagt, und irgendjemand muss sie ernten. Tausende junger Frauen sind das, zumeist aus Polen, Rumänien und anderen östlichen Staaten, die da in den „Gurkenfliegern“ liegen, bäuchlings auf den „Tragflächen“ schwerer Traktoren, zehn links, zehn rechts, durch weiße Planen eher geschützt vor Regen als vor Hitze. Gurken suchen, Größe ertasten, die passenden pflücken, aufs Förderband legen. Über Stunden hinweg, Tag für Tag, einen ganzen Sommer lang, von Jahr zu Jahr mehr. In der Hoffnung, wenigstens den deutschen Mindestlohn zu kriegen – den mancher Bauer gar nicht gern zahlt: „Der treibt uns in die Existenzkrise“, heißt es.

 

Andere feiern. Nicht die Erntehelfer. Denn Niederbayern, der Regierungsbezirk an Isar und Donau, von Landshut bis in den Bayerischen Wald, er hat ja ein zweites Gesicht. Ein industrielles, hoch modernes. Exakt fünfzig Jahre ist es her, dass sich in den Hallen des „Goggomobil“-Erfinders Hans Glas, fast genau in Niederbayerns geographischer Mitte, der BMW-Konzern niedergelassen hat. Sein Werk in Dingolfing baut mit derzeit 17 500 Beschäftigten 340 000 Autos der nobelsten Serien pro Jahr, bei Bedarf auch mehr. Es ist der größte BMW-Standort in Europa.

Im Konzern gilt Dingolfing als führend bei Innovationen und Flexibilität, Elektroantrieb und selbstfahrenden Autos; gerade für die Oberklasse sei man „Leit-Werk“, sagt Standortchef Andreas Wendt. Und auch Landshut, die zweite niederbayerische BMW-Fabrik mit 4100 Beschäftigten, sie mischt ganz vorne mit. Da ließ man sich auch nicht lumpen. Zur Jubiläumsparty haben die Bayerischen Motorenwerke unlängst 60.000 Menschen eingeladen: Mitarbeiter, Familien, Freunde.

Wachstumsmotor für die ganze Region

Zur Feiern kamen sie aus dem ganzen Regierungsbezirk, denn BMW hat einen Wachstumsmotor in Gang gesetzt, der die Region, die noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg als das „Armenhaus“ Bayerns galt, mit nahezu allen Wirtschaftsdaten an die Spitze Europas katapultiert. Nirgendwo in der Europäischen Union, so teilt Eurostat, das statistische Amt der EU mit, gebe es weniger Erwerbslose als in Niederbayern.

BMW-Gehälter von jährlich mehr als einer Milliarde Euro und Erfolgsboni in dreistelliger Millionenhöhe (2016) haben flächendeckend einen Wohlstand geschaffen, der für ein ländliches Gebiet ganz ungewöhnlich ist. Und das Wachstums, das von allen Seiten als harmonisch, organisch und nachhaltig gelobt wird, scheint kein Ende zu nehmen: Die niederbayerischen Zahlen liegen weiterhin über dem ohnehin hohen bayerischen Landesschnitt.

Jetzt müsste nur noch, denkt man sich, der Bayerische Wald aufholen, der im Armenhaus von früher die hinterste Stube war, wo es außer Granitbrüchen, Holz und Glasbläserei nichts gab; wo sie – wie ein Unternehmer sagt – „am Eisernen Vorhang standen wie mit dem Rücken zur Wand“; von wo aus Maurerbrigaden nach München gependelt sind, sechs Tage die Woche; wo es lange Wintermonate gar nichts zu tun gab und die Arbeitslosigkeit zwischen 30 und 40 Prozent schwankte. 1984 stieg sie gar auf 49 Prozent. Kaum eine Generation liegt das zurück. Unvergessen.

Da fährt man beispielsweise durch Spiegelau. Die gleichnamige Nobel-Glasmarke gibt’s noch. Doch das österreichische Unternehmen Riedel hat sie sich einverleibt. Schon lange raucht kein Schornstein mehr in Spiegelau, die langen Fabrikbaracken verfallen. „Dass Riedel 2008 die Produktion stillgelegt hat, das hat eine stolze Glasmachergemeinde ins Herz getroffen; auf einen Schlag waren 460 Arbeitsplätze weg, und Zulieferfirmen standen vor dem Nichts“, sagt Ralph Heinrich vom Landratsamt Freyung-Grafenau.

Scherben einer stolzen Industrie

Freyung-Grafenau, der Landkreis an der tschechischen Grenze, ist eines der ganz wenigen Gebiete in Bayern, aus denen bis heute mehr Menschen ab- als zuwandern. Der Nachwuchs bleibt aus: die Zahl der Kinder ist um ein Viertel zurückgegangen im Lauf von zehn Jahren; dafür wird laut amtlichen Berechnungen bis 2034 die Zahl der Rentner um fast 40 Prozent steigen.

Die versteckten Überflieger

Doch wenn Heinrich die neuesten Zahlen auf den Tisch legt, traut man seinen Augen nicht: Die Arbeitslosigkeit in Freyung-Grafenau liegt aktuell bei 2,2 Prozent; um ein Viertel ist die Zahl der Industriebeschäftigten seit 2010 gestiegen. Mehr Vollbeschäftigung geht nicht. Es müssen im „Woid“ also einige Geheimnisse versteckt sein, ja eine ganze Wirtschafts-Revolution. „Hidden Champions“, sagt Heinrich denn auch – und schon steht man mit ihm, der im Landkreis für die Wirtschaftsförderung zuständig ist, in dem fast nagelneuen Gebäude der Firma Thomas-Krenn.

Sie nehmen’s mit jedem auf

Computer-Server bauen sie dort. Zu den Kunden, so sagt Geschäftsführer David Hoeflmayr, zählten „alle Dax-Konzerne“, und zu den Hauptkonkurrenten auch keine Geringen: Dell oder Lenovo. „Die sind zwölftausendmal größer als wir, aber wir jagen ihnen Marktanteile ab.“ Bei Thomas-Krenn stecken sie die Server nach den ganz eigenen Wünschen der einzelnen Kunden zusammen: ob es der Bauer ist, der – Landwirtschaft 4.0 – die Daten seines Viehbestands auswertet, oder der Autokonzern, der zur Produktionssteuerung weltweit gleich tausend Stück ordert. Sie liefern in 24 Stunden aus. Europaweit.

160 Beschäftigte, 100 Neukunden pro Monat, Jahresumsatz 33 Millionen Euro, „solides Wachstum“ von 10 bis 20 Prozent im Jahr. Woher kommt das? Hoeflmayr sagt: nicht nur von einer ganz persönlichen Kundenbetreuung im hauseigenen Call-Center, sondern auch von der kleinen Struktur. Die Beraterin am Telefon sitzt praktisch direkt neben dem Techniker, der den Server konfiguriert.

Ob der Standort Bayerischer Wald nicht zu entlegen ist? Hoeflmayr sagt: ganz im Gegenteil. „Hier kriegen wir die jungen Leute, die wir brauchen.“ In München wäre die Konkurrenzlage viel zu groß. Auch finanziell könnte man nicht mithalten: Das Geschäftsmodell von Thomas-Krenn und anderen beruht nicht zuletzt darauf, dass die Gehälter im Wald viel niedriger, teils nur halb so hoch sind wie in der Landeshauptstadt.

Klar, im Bayerischen Wald lebt sich’s billiger. Denkt man. Der Mann vom Landratsamt aber sagt, das Gehaltsgefälle zur Stadt sei „immer noch so hoch, dass den Münchnern trotz hoher Mieten am Monatsende mehr übrig bleibt als den Leuten bei uns.“ Da braucht es schon Bodenständigkeit oder Liebe zur Heimat, damit die Menschen zuhause bleiben. Oder jene über Jahrhunderte zwangsläufig erlernte Genügsamkeit, die man den „Waidlern“ nachsagt.

Ein Lebensraum bleibt sich treu

Der Boom, sagt Ralph Heinrich, kam auch nicht von außen: da haben keine Großinvestoren den Wald erstürmt. Es waren kleine, heimische Gründer – wie im Fall Thomas-Krenn – oder örtliche Firmen, die das Wachstum vorangetrieben hätten. „Da sind unsere Gemeinden mit dem Ausweisen von Gewerbegebieten gar nicht mehr nachgekommen.“ Mittlerweile werde es mit geeigneten ebenen Flächen schon so eng wie mit Fachkräften: „Die Firmen jagen sich gute Leute gegenseitig ab.“ Und natürlich: Die Regionalförderung durch die EU und durch Bayern, „die hat uns extrem gut getan. Die setzt viele Hebel in Bewegung.“ Wer im Grenzland immer noch 18 Prozent seiner Investitionen erstattet bekommt, sagt Heinrich, „der baut gleich größer: eine Maschine obendrauf, eine Halle dazu, Zweischichtbetrieb, zwanzig Arbeitsplätze.“ Aber was ist, wenn 2020 die aktuelle Finanzierung der Europäischen Union ausläuft und Niederbayern aus der Regionalförderung hinausfliegt? Heinrich mag gar nicht daran denken.

Boom in bayerisch Fern-Ost

Wer bei „SLE-Electronic“ in Grafenau vorbeischaut, der bekommt erst mal ein Unternehmensvideo gezeigt. Auf Wunsch in Chinesisch. Etliche Jahre war Firmengründer und Geschäftsführer Josef Liebl in Asien tätig; dann hat es ihn zur „Region seiner Wurzeln“ zurückgezogen. Vom Bayerischen Wald aus beliefert er heute Weltfirmen – Rolex, Philips, BMW, Gillette unter anderen – mit Maschinen, die Bauteile während laufender Produktion reinigen, ölen, entölen, beschichten, je nach Bedarf. 300 Leute beschäftigt Liebl, und fürs Gelände gleich nebendran hat er eine Schweizer Firma gewonnen. „Wir sind Teil des Lebensraums“, sagt Liebl. „Die Wege sind kurz; wir sehen uns auch am Abend, am Wochenende. Wir gehen seriös miteinander um. So wie wir eben selber behandelt werden wollen.“

Dann gibt’s noch einen, der seinerzeit mit voller Absicht, als Grenzlandförderung, fast direkt an den Eisernen Vorhang gesetzt wurde, und der heute seinen ganz eigenen Boom erlebt: der Wohnmobil- und Caravan-Bauer Knaus Tabbert in Jandelsbrunn. 2008/09 knapp am Aus vorbeigeschrammt, reitet das einstige Familienunternehmen heute ganz oben auf der Freizeit- und Erlebniswelle. 2016 sei ein Rekordjahr gewesen, sagt Geschäftsführer Werner Vaterl, „und 2017 liegt nochmal um 31 Prozent drüber.“ 100 Millionen Euro will man in fünf Jahren investieren, „dreißig Millionen gleich dieses Jahr.“ Die Beschäftigten hat man auf tausend aufgestockt. „Und wir zahlen Tarif“, hebt Vaterl hervor. Wobei er durchblicken lässt, dass es auch gar nicht anders geht: Wie sonst sollte Knaus Tabbert genügend Mitarbeiter gewinnen? Nicht mal mehr Tschechien, gleich gegenüber, liefert sie: Auch dort herrscht Vollbeschäftigung.

Spinnennetz und Tradition

Jandelsbrunn übrigens ist das äußerste östliche Ende jenes speziellen Systems, mit dem BMW seinen Segen über die ganze Region verteilt hat: ein Netz an Bussen holt die Arbeiter jeden Tag an ihren Wohnorten ab und fährt sie zur Schicht nach Dingolfing. 128 Kilometer, eineinhalb Stunden einfache Fahrt, sind das von Jandelsbrunn aus. Und selbst wenn es dort, im Landkreis Freyung-Grafenau, heute mehr als genug Arbeit gibt, so pendeln täglich immer noch rund 400 BMWler aus dem Wald hinaus.

Das kostenlose Zubringersystem ersetzt, was es in Niederbayern sonst bis heute nicht gibt: einen flächendeckenden öffentlichen Nahverkehr. Und es war, wie man heute sieht, eine der genialsten Entscheidungen der Firmengründer. Das Netz an Buslinien hat auch verhindert, dass aus Dingolfing ein zweites Wolfsburg oder gar Detroit wurde: ein Mega-Zentrum mit Trabanten-Arbeitersiedlungen. Die niederbayerischen Arbeiter wurden nicht entwurzelt, sie bleiben in den Dörfern, aus denen sie stammen. Dort haben sie Familie, Haus oder Baugrund, dazu (früher) meist eine Landwirtschaft; dort sind sie in der örtlichen Gemeinschaft verankert: in der Blaskapelle, dem Fußballverein, der Freiwilligen Feuerwehr. „Die Industrialisierung Niederbayerns“, sagt der Dingolfinger Heimatpfleger Georg Rettenbeck, „hat an den sozialen Strukturen eigentlich gar nichts geändert.“ Nur wohlhabend sind die meisten geworden. Und solange es BMW gut geht . . .

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