Tausende Einwohner im Land leiden offiziell unter zu schlechter Luft. Die könnte für die Behörden zu einem noch größeren Problem werden – wenn Betroffene ihr Recht einfordern. Amtliche Schätzungen liefern dafür eine Steilvorlage.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Dass an vielen verkehrsreichen Stellen im Land auch 2016 zu viel Stickstoffdioxid (NO2) in der Luft war, hat die (vorläufige) Luftbilanz schon Anfang Januar ergeben. Ein Dokument der Landesanstalt für Umwelt (LUBW) könnte den Behörden künftig noch mehr Arbeit machen. Es handelt sich um die überarbeitete Prioritätenliste für Spotmessungen im Land – also Orte, an denen die Luft mutmaßlich schlechter ist als vom europäischen und deutschen Gesetzgeber erlaubt und an denen die LUBW vorhat, genauer zu messen. Die Liste umfasst 18 solcher Orte, an 13 von ihnen liegt laut einer Modellrechnung das NO2-Jahresmittel über dem Grenzwert von 40 Mikrogramm je Kubikmeter Luft. Der Grenzwert für Feinstaub wird den Berechnungen zufolge an keiner dieser Stellen überschritten.

 

Das normale Verfahren sieht vor, dass die LUBW mit Messungen an den laut der Prognose am stärksten belasteten Punkten beginnt (siehe unten). Mangels Messgeräten wurde vergangenes Jahr nur an sechs der 13 potenziell zu stark belasteten Orte tatsächlich gemessen: in Leinfelden-Echterdingen, Esslingen, Backnang, Kuchen, Konstanz und Markdorf – nicht aber in der Hanns-Martin-Schleyer-Straße in Sindelfingen sowie an sechs weiteren problematischen Stellen. Da, wo gemessen wurde, lag der NO2-Mittelwert laut vorläufiger Zahlen jeweils leicht unter der Prognose – aber eben auch über dem gesetzlichen Grenzwert.

Anwohner haben es mit der besagten LUBW-Prioritätenliste sowie den Messergebnissen schwarz auf weiß, dass bei ihnen die Luft zu schlecht ist. Trotzdem werden da, wo vergangenes Jahr nicht gemessen wurde, die Betroffenen so schnell sicherlich nicht mit einem Luftreinhalteplan geschützt. 29 solcher Pläne haben die Behörden im Land bis jetzt aufgestellt. Die Voraussetzung ist, dass mindestens ein Jahr lang gemessen und dabei eine zu hohe Luftbelastung festgestellt wurde.

Rechtlich gesehen ist das Neuland

Dass Bürger einen Luftreinhalteplan anhand von Modellrechnungen, wie sie in der LUBW-Liste dokumentiert sind, einfordern – „so ein Verfahren haben wir noch nie begleitet“, sagt eine Expertin der deutschen Umwelthilfe, die etliche Gerichtsverfahren zum Thema durchficht.

Die LUBW und das Verkehrsministerium wollen von Luftreinhalteplänen auf Grundlage von Modellrechnungen nichts wissen. Sie verweisen auf das Gesetz – und darauf, dass die Anzahl der Messungen an verkehrsreichen Stellen im Land „über die gesetzlich geforderte Anzahl deutlich hinausgeht“, sagt ein Sprecher des Ministeriums. Es seien schlicht nicht genug Geräte da, um an allen Orten auf der Prioritätenliste sofort zu messen. Man habe dennoch ein „umfangreiches und vollständiges Bild der Luftqualität in Baden-Württemberg“.

Tausende Bürger betroffen

Allerdings kann das Haus von Minister Winfried Hermann (Grüne) nicht sagen, wie viele Einwohner im Land einer zu hohen Luftbelastung ausgesetzt sind. 10 590 sind es laut einer Übersicht der LUBW im unmittelbaren Umfeld der Messstellen, also etwa Am Neckartor in Stuttgart oder an der Ledererstraße in Reutlingen. Die in der Prioritätenliste aufgeführten Orte kommen mindestens noch obendrauf, ebenso und in einem viel größeren Umfang die Anwohner im weiteren Umfeld der Messpunkte. In Stuttgart beispielsweise sind die NO2-Werte laut der Stadtverwaltung entlang von 65 Straßenkilometern erhöht. Letztlich, so ein Ministeriumssprecher, sei für die Einführung eines Luftreinhalteplans die Anzahl der Betroffenen egal – wichtig sei lediglich, dass offizielle Messungen eine überhöhte Luftbelastung feststellen. Wofür nur eine begrenzte Zahl Messgeräte zur Verfügung steht.

Die derzeit von der LUBW betriebenen 36 Spotmessstellen stellten „die Obergrenze der Kapazität dar“, sagt eine Sprecherin. „Ursprünglich waren 25 Standorte geplant.“ Sie reichen jedoch nicht, um an allen laut LUBW-Liste übermäßig belasteten Stellen sofort regulär zu messen. Andernorts baut man die Messgeräte nämlich erst ab, wenn die Grenzwerte mehrere Jahre in Folge unterschritten wurden.

Im Verkehrsministerium heißt es aber, nicht die Anzahl der Messgeräte sei der Flaschenhals, sondern die Luftreinhaltepläne seien es. Sie aufzustellen sei aufwendig, sie sinnvoll anzuwenden wegen politischen Drucks oder wegen der Abgasschummeleien der Autohersteller oftmals unmöglich.

Die Deutsche Umwelthilfe empfiehlt betroffenen Bürgern, in deren Umfeld noch nicht offiziell gemessen wird, beim zuständigen Regierungspräsidium einen Luftreinhalteplan zu beantragen. Möglicherweise könne man zunächst nur erreichen, dass an der entsprechenden Stelle zeitnah eine Messgerät aufgebaut werde, vermutet eine Sprecherin.

Warum die Messstellen stehen, wo sie stehen

Seit Jahren misst die Landesanstalt für Umwelt (LUBW) die Luftbelastung da, wo sie mutmaßlich besonders hoch ist. Bei Stickstoffdioxid (NO2) werden die Grenzwerte inzwischen häufiger überschritten als bei Feinstaub.

Anhand von Probemessungen und Modellrechnungen, die Verkehr und Bebauung mit einschließen, erstellt die LUBW eine Liste von Orten, wo Grenzwerte am wahrscheinlichsten überschritten werden. Grundlage für die aktualisierte Liste, die 18 Straßenabschnitte mit hoher NO2-Belastung umfasst, sind 106 Messungen aus dem Jahr 2006. Wo die Belastung am höchsten ist, wird als erstes gemessen – wenn Geräte verfügbar sind.

36 sogenannte Spotmessstellen betreibt die LUBW. Ein Gerät steht erst wieder zur Verfügung, wenn anderswo drei Jahre in Folge die Grenzwerte eingehalten wurden.