Norbert Gstrein begibt sich in seinem neuen Roman in das Spannungsfeld zwischen Israelis und Palästinensern. „In der freien Welt“ handelt vom Mord an einem zionistischen Autor und von einer Identitätssuche im Licht der deutschen Geschichte.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Für einen Schriftsteller ist der Tod wichtiger als das Leben. Beiläufig fällt in dem jüngsten Roman von Norbert Gstrein „In der freien Welt“ dieser Satz. Und lässt man den Blick über seine letzten großen Bücher schweifen, begegnet man immer wieder Erzählern, die sich an die Fersen Verstorbener heften, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Das war in seiner Romanrecherche „Das Handwerk des Tötens“ über den gewaltsamen Tod eines Reporters während des jugoslawischen Bürgerkriegs so. Und auch in seinem letzten Roman „Eine Ahnung vom Anfang“ arbeitet der, der erzählt, über die Geschichte eines sich religiös radikalisierenden jungen Mannes den Selbstmord seines Bruders auf.

 

Gleichzeitig jedoch, und das scheint jener Maxime entgegen zu stehen, ragt das reale Leben wie bei kaum einem anderen zeitgenössischen Autor in seine Werke hinein. Gstrein schreibt das, was man Schlüsselromane nennt, die Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist hier nicht Zufall, sondern Methode. Und was seine Figuren von der Wirklichkeit hereintragen, sind die großen Auseinandersetzungen unserer Zeit.

Sexuell hyperaktiver Kraftprotz

Diesmal ist es der Nahostkonflikt, vor dessen Hintergrund die Handelnden des Romans Stellung beziehen. Die reale Person, die der Autor neben sich selbst fiktional verschlüsselt, ist gleichzeitig der Widmungsträger des Romans, Alan Kaufman, ein hierzulande wenig bekannter Nachzügler auf der Straße der großen amerikanischen Beatniks. Um zur Romanfigur zu werden, muss er es sich freilich gefallen lassen, von Gstrein in den für sein Schreiben charakteristischen Aggregatzustand versetzt zu werden: eben den des Todes.

John, so sein Name, ist in San Francisco erstochen worden, drei Wochen nach einem Aufenthalt in Israel. Mit dem Erzähler verbindet ihn eine langjährige Freundschaft, die sich vor allem über Gegensätze definiert: John ist der Sohn einer Holocaust-Überlebenden, der Erzähler, wie Gstrein aus einem Tiroler Bergdorf stammend, ein österreichisches „Täterkind“; jener ein viriler Kraftprotz, der sich mit allen Mitteln gegen das Trauma seiner Familiengeschichte zu behaupten sucht, und dessen erstes Buch ein Comic war, in dem er selbst als jüdischer Superman so viele Nazis wie möglich umbringt, dieser dagegen ein skrupulöser Formalist, der sich vor allem aufs Beobachten, Bezeugen und Bewundern verlegt, und in solcher Haltung auch verbleibt, als ihm der sexuell hyperaktive Freund die Geliebte ausspannt.

Vom Libanonkrieg traumatisiert

Es ist dieses spannungsvolle Wechselverhältnis, das es rechtfertigt, die Geschichte dieser Freundschaft aufzuschreiben. Denn Gstrein will sich keine Halbheiten von der Realität beglaubigen lassen, sondern Extreme aus dem Leben selbst herausentwickeln. Johns Tod liefert dazu den Anlass, nicht um ihn aufzuklären, auch wenn die Erkundungen des Erzählers bisweilen in einen kriminalistischen Sog geraten, sondern um festzuhalten, was war.

„Schreib über mich“, hat John den Freund zu Lebzeiten aufgefordert, ohne Hemmungen und ungeschönt, „lieber bin ich das größte Arschloch in einem guten Buch als ein Heiliger in einem schlechten.“ Als Heiligen kann man diesen Frauen verschleißenden Kraftprotz, der zuletzt mit einer Pornodarstellerin zusammenlebt, gewiss nicht bezeichnen. Im ersten Libanonkrieg stand er in Diensten der israelischen Armee und hatte Dinge zu verantworten, über die er nie hinwegkam.

Während er es als heroischer Eroberer des gelobten Landes auf die Titelseiten der Gazetten schafft, malt er als dilettierender Künstler eine Serie von Bildern, die er unter dem Rubrum zionistischer Kunst auszustellen plant, darunter ein „Self-Portrait as a hated Jew“. Seiner klaren ideologischen Überzeugungen zum Trotz ist John ein Zerrissener, eine geplagte Kreatur, mit dem „ängstlichen Blick eines von Gott und der Welt verlassenen Kindes“.

Grenzverkehr zwischen Literatur und Wirklichkeit

Mehr als aus Handlungszügen gewinnt dieser Roman seine Brisanz und Spannung aus Sichtweisen. Auf Reisen und in Rückblenden holt der Erzähler sie ein. Zwischen Österreich, Israel und den USA verlaufen die Blickachsen. Sie verbinden das Leid, das die Bilder von Verstorbenen im Pappkoffer von Johns Mutter bergen, mit menschenverachtenden Szenen im besetzten Westjordanland, den philosemitischen Überschwang von deutschen Kibbuzim, die sich den Dreck ihrer Eltern vom Leib schaffen wollen, mit den Juden-raus-aus-Palästina-Rufen, in denen jenes frühere „Juden raus aus Europa“ auf fatale Weise widerklingt.

In einer Reihe von Gegenfiguren bricht sich der Zionismus des vor der Geschichte seiner Mutter in rückhaltlose Selbstbehauptung geflohenen amerikanischen „Muskeljuden“. Und wenn sich irgendwo die Qualität des Erlebten als Qualität des Erzählten behauptet, dann in der Weise, in der diese Antagonisten nicht als Vertreter von Thesen, sondern ihrerseits als durchaus anfechtbare Individuen in Erscheinung treten.

Auf einem österreichischen Literaturfestival wird John von einem krawalligen Kulturfunktionär mit dem palästinensischen Autor Marwan zusammengebracht. In einem gemeinsamen Buch sollen beide jener Versöhnung den Boden bereiten, die politisch in unerreichbare Ferne gerückt ist. Das Projekt kommt nicht zustande, nicht zuletzt wegen des Mordes an John. Dafür schreibt Marwan eine Erzählung, die beunruhigend mit dem Bild des „Hated Jew“ korrespondiert, kein Text der Versöhnung, sondern einer des Todes.

Chronik des Grauens

Den Recherchen des Erzählers ist als unterschwellige Tonspur das Rumoren von Attentaten unterlegt: das Gemetzel an einem britischen Soldaten in London, um die Muslime in aller Welt zu rächen, Raketen auf Tel Aviv, das Massaker eines fanatischen Siedlers während des Freitagsgebets, ein erschossener israelischer Polizist, drei entführte und ermordete Studenten, verbrannte palästinensische Kinder, ein Anschlag auf Betende in der Synagoge, Messerattacken.

Die Chronik des Grauens bringt Johns früheren Weggefährten und späteren Gegenspieler Roy Isacowitz zur Überzeugung, dass das zionistische Experiment gescheitert sei. Aus Südafrika nach Israel eingewandert glaubt er dort jene Apartheid wiederzufinden, der er einst den Rücken kehrte – Rollenprosa, wenngleich einem tatsächlich existierenden jüdischen Autors und Intellektuellen gleichen Namens in den Mund gelegt.

Darf man Juden als Täter darstellen? Diese Frage inszeniert Gstrein im Roman als literaturpolitischen Skandal. Die augenfällige Heuchelei der daran beteiligten Wortführer ist keine Antwort, wie sich der Roman überhaupt aller Antworten enthält, ohne dadurch in jenen „Ausgewogenheitskitsch“ zu verfallen, den seine palästinensischen Gesprächspartner dem Erzähler vorhalten. Offenheit setzt er ideologischen Gebietskämpfen entgegen, Offenheit bestimmt den Grenzverkehr zwischen Literatur und Wirklichkeit noch da, wo von den Viehschranken berichtet wird, die die Bewohner des Westjordanlands passieren müssen, um zu ihrer Arbeit zu kommen.

Der Roman ist das Denkmal für einen ermordeten Juden. In der letzten Sichtachse richtet Gstrein ihn auf das Stelenfeld des Holocaustmahnmals in Berlin aus. Die Toten behalten ihr Recht über die Lebenden. Wer könnte davon genauer erzählen, als ein Autor, der sich dieses zur poetologischen Maxime gemacht hat?