Zwölf Jahre lang haben Künstler am Nordbahnhof in Eisenbahnwaggons gelebt und dort gearbeitet. Nun weicht das Gebiet der Stuttgart-21-Baustelle.

Stuttgart - Wenn die Bagger am Nordbahnhof längst abgezogen sind, Einkaufszentren den Stuttgartern den Shoppinghimmel auf Erden bescheren, Kinofilme in 2-D nur noch im Museum gezeigt werden und ich meine Enkel auf dem Schoß sitzen habe - dann werde ich ihnen eine Geschichte erzählen. Ein Stuttgarter Märchen.

Es waren einmal ein paar Künstler. Sie hatten eine Vision, die Vision eines freien Zusammenarbeitens und -lebens. Sie gründeten einen Verein, mieteten ein altes Arbeiterwohnheim der Deutschen Bahn am Stuttgarter Nordbahnhof und kauften zwanzig ausrangierte Eisenbahnwaggons. Darin richteten sie sich Ateliers, Wohnräume und eine Bar ein. Und weil sie fanden, dass es schön war, wie sie lebten, und weil sie stolz auf ihre Arbeit waren, luden sie Freunde und Bekannte ein. Und weil den Freunden und Bekannten gut gefiel, was sie dort sahen, luden sie weitere Freunde und Bekannte ein.

Und weil denen die bunte Welt am Nordbahnhof genauso gut gefiel, freuten sich die Künstler und vergrößerten ihr leuchtendes Paradies im Schatten eines Schrottplatzes weiter und weiter. Sie feierten größere und buntere Feste, zu denen mehr und mehr Menschen kamen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann verwirklichen sie ihn noch immer, ihren bunten Künstlertraum einer besseren Welt.

Oma, werden meine Enkelkinder dann fragen, gehst du da mal mit uns hin? Das geht leider nicht, werde ich antworten.

Am 14. Januar 2011 bekomme ich eine E-Mail. Mit drei Ausrufezeichen. "Hallo Simone, ab jetzt gilt offiziell: Die Waggons am Nordbahnhof sind auf Ende dieses Monats gekündigt!!!" Absehbar war es ja schon lange, dass diese kleine, feine, ja diese eine wirkliche Oase, die die baden-württembergische Landeshauptstadt zu bieten hatte, nicht bestehen würde. Die Fläche ist schon immer Teil des Bauprojekts Stuttgart 21 gewesen, je näher das Projekt rückte, desto lauter wurden die Gerüchte, dass "dieser Sommer nun wirklich der letzte sein wird". Jedes Mal wurde der Mietvertrag dann doch wieder um ein weiteres Jahr verlängert. Nur dieses Mal nicht.

Zwar sind die Waggons nicht Ende Januar abtransportiert worden. Doch ob es nun Ende Februar oder März wird: im Sommer wird die Künstlergemeinschaft "Bauzug 3YG" den Nordbahnhof verlassen haben.

Vergänglichkeit verleiht diesen Orten einen Zauber


Provisorische Projekte zur Zwischennutzung frei stehender Flächen haben ihren eigenen Charme. Man denke an die Radio Bar am Rotebühlplatz, die im Juni 2000 schließen musste, die früheren Standorte des Rocker 33 oder auch die Wagenhallen, deren Macher inzwischen jedoch in Fünfjahresschritten planen dürfen. Ihre Vergänglichkeit verleiht diesen Orten einen Zauber, macht sie zum Inbegriff der Horaz'schen Carpe-diem-Aufforderung: Nutze den Tag, nutze deine Zeit, warte nicht auf das, was kommen könnte. Im Frühjahr des vergangenen Jahres hat die Künstlergruppe noch mal so richtig aufgefahren, eine Manege mit Holztribüne gezimmert und ein großes Zirkusfestival veranstaltet - obwohl die Zeit knapper und knapper wurde. Ob sich Dinge lohnen, wurde hier nie gefragt. Alles lohnt sich. Für den Moment.

Ich sitze mit Aurèle Mechler und Sebastian Scherbaum - der eine unter anderem Maler, Grafiker und Illustrator, der andere unter anderem Kulissenbauer, Installationskünstler und Akustikfreund - in Sebastians Waggon. Der Holzofen knackt, draußen ist es grau und trist. Konfettireste, hier und da eine leere Flasche und die nur noch müde vor sich hinglimmende Glut in einer alten Öltonne erinnern an das Fest vom Vorabend. Eines der letzten.

Sebastian und Aurèle schauen aus dem Fenster, auf den Ort, an dem sie die vergangenen Jahre gelebt haben. Eine Küchenecke hat Sebastian in seinem Waggon, ein Bett, einen Arbeitsplatz, einen Esstisch. Jeder der hier lebenden Künstler hat sich seinen Wagen nach seinen Bedürfnissen gestaltet. "Mein Vater hat das erst nicht glauben wollen", erzählt Aurèle. In einem Waggon leben? Ohne fließend Wasser? Ohne Zentralheizung? Unvorstellbar. Dann habe er ihn besucht. "Und war ganz begeistert: sei ja doch irgendwie gemütlich hier."