„Absolut realistisch“: An einer Hightechpuppe üben Ärzte und Schwestern in der Uniklinik Tübingen für den Notfall.

Tübingen - Der erste Patient an diesem Tag ist ein Frühchen: Laura, ganze drei Tage alt, trägt eine rosa Häkelmütze, ein weißes Handtuch bedeckt ihren Unterleib. Ihr Kopf ist so klein wie eine Honigmelone, die winzigen Finger können den Daumen eines Mannes nicht umfassen. Auf ihrer Brust klemmen Elektroden und kontrollieren den Herzschlag. Ein dünner Schlauch unter der Nase verströmt Sauerstoff. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich, manchmal zappeln die dünnen Beinchen.

 

Laura kostet 60 000 Euro, sie ist eine Baby-Simulatorpuppe aus Gummi.

Hinter einer spanischen Wand steuern die Kinderkrankenschwester Doris und die Hebamme Claudia die Körperreaktionen der kleinen Patientin. Die beiden haben freie Hand, um im simulierten Krankenzimmer Aufruhr zu verursachen: Sie können den Puls senken, das Kind krampfen oder allergisch auf Medikamente reagieren lassen. Und damit ihre Kollegen rund um das Bett zum Schwitzen bringen.

Im Tübinger Patientensicherheits- und Simulationszentrum (Tüpass) trainieren Medizinerteams die Zusammenarbeit in Notfällen. „So lassen sich Fehler später in Stresssituationen eher vermeiden“, sagt Tüpass-Chef Marcus Rall. Neben der Babypuppe liegen noch drei „erwachsene“ Simulatoren in dem umgebauten Kliniktrakt. Es gibt einen OP-Saal, eine Intensivstation, ein Stationszimmer und eine Notaufnahme. Die Teilnehmer des Seminars – Schwestern, Hebammen, Kinderärzte, Unfallchirurgen und Anästhesisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz – werden als Instruktoren ausgebildet. Künftig sollen sie das Simulationstraining an ihren Kliniken selbst leiten.

Fehler sind in der Medizin ein Tabu

Trainernachwuchs wird dringend gebraucht: 17 000 Menschen sterben jedes Jahr an medizinischen Irrtümern, Kunstfehlern oder Infektionen in deutschen Krankenhäusern. Zehnmal so viele werden durch ärztliches Versagen schwer, hundertmal so viele leicht verletzt. „Dabei lassen sich die meisten dieser Fehler vermeiden“, sagt Marcus Rall, der selbst Arzt ist und folglich weiß, was in Stresssituationen schieflaufen kann. „Trotzdem sind Fehler in der Medizin ein Tabu. Man arbeitet nicht systematisch an den Ursachen und analysiert die Zwischenfälle.“

Der 45-Jährige – weißes Hemd, kurzes, grau meliertes Haar, schwäbischer Dialekt – strahlt Ruhe und Gelassenheit aus. Spricht man ihn jedoch auf sein Spezialthema an, poltert er vor Wut: „Ob in der Kernenergie oder Luftfahrt: überall, wo es gefährlich wird, sind regelmäßige Simulationstrainings vorgeschrieben. Nur nicht in der Medizin.“ Als Marcus Rall das Tüpass vor 15 Jahren gründete, verhöhnten ihn manche Kollegen als Puppenspieler. Heute würde das niemand mehr sagen, trotzdem werden Simulationstrainings außerhalb des Medizinstudiums nur selten genutzt. „Ein Skandal“, sagt Rall. „Jeden Tag sterben Menschen durch vermeidbare Fehler, und wir schauen tatenlos zu.“

Ein Mausklick, schon baut sich das Piepen im Raum zu einem schrillen Alarmton auf – Notfall! Das Herz des Frühchens schlägt langsamer, der Sauerstoff wird knapp. Im simulierten Krankenzimmer bricht Hektik aus. Zwei Schwestern, ein Assistenz- und ein Oberarzt drängen sich um das Bettchen. Im Blut haben sich Luftblasen gebildet, das Hirn bekommt zu wenig Sauerstoff. Wenige Minuten können über Leben und Tod entscheiden.

Während der Operation bricht ein Chaos aus

Für das Team geht es nun um eine reibungslose Zusammenarbeit und das schnelle Abspulen erlernter Routinen. Der Oberarzt reagiert professionell und verlangt von der Schwester eine Herzdruckmassage. Behutsam umfasst sie den schmächtigen Oberkörper und drückt mit beiden Daumen auf den Brustkorb. Eine ganze Hand würde die zarten Rippen zerquetschen. Der Assistenzarzt pumpt mit einem Beatmungsbeutel Sauerstoff in die Lunge. Die zweite Schwester zieht ein blutdruckerhöhendes Medikament auf. Alles geht Hand in Hand.

Erst als die Simulationsleiterinnen Claudia und Doris den Ärzten ein Röntgenbild verweigern, gerät das Team aus dem Rhythmus. Der eben noch hellwache Assistenzarzt scheint plötzlich in Gedanken versunken. Als der Oberarzt verlangt, eine Drainage in den Brustkorb zu legen, ist das Chaos perfekt. Wer soll es machen? Alle sind beschäftigt. Schließlich unterbricht die erste Schwester ihre Herzdruckmassage. Für das Neugeborene eine lebensgefährliche Situation: Einen Moment lang zirkuliert kein Blut mehr, Herz, Leber und Niere bekommen kaum noch Sauerstoff. Keiner der Ärzte bemerkt den Fehler. Die Kamera zeichnet derweil alles auf.

„Fühlt sich absolut realistisch an“, sagt der Assistenzarzt nach 15 harten Trainingsminuten und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Bei der Diskussion direkt nach dem simulierten Eingriff sieht er seine Aktionen auf Video und spricht mit den anderen über die Fehler. „Zwischendurch bin ich innerlich verzweifelt und habe alles um mich herum ausgeblendet“, gibt er offen zu. Das verweigerte Röntgenbild habe ihn aus dem Konzept gebracht. Auch die Schwester reagiert fassungslos auf ihren Aussetzer: Sie sei in dem Moment überfordert gewesen. „Bei einem echten Kind hätte ich niemals aufgehört zu drücken“, verteidigt sie sich. „Das glaube ich. Aber warum hast du nichts gesagt?“, fragt Rall.

Frust breitet sich aus

Miteinander reden, Probleme benennen, Hilfe anfordern – viele Mediziner tun sich schwer damit. Ein wesentlicher Grund sei, dass in Kliniken selten über Fehler gesprochen werde, sagt Rall. „Bei vielen Chefärzten existiert die Grundhaltung: Wer gut ist, macht keinen Fehler. Das führt dazu, dass Ärzte Fehler leugnen oder verschweigen. Und Schwestern nicht widersprechen, obwohl sie es besser wissen.“

Gebt weiter, was euch bewegt; fragt, wenn ihr etwas nicht versteht, rät Marcus Rall seinen Schützlingen. Wenn die Kommunikation zusammenbricht oder eine Situation neu zu beurteilen ist, empfiehlt er das Zehn-für-zehn-Prinzip: zehn Sekunden innehalten für zehn Minuten Aktion. Selbst unter Zeitnot sei es besser, sich kurz zu sammeln und das weitere Vorgehen im Team abzustimmen. „Danach arbeitet man effektiver und für den Patienten sicherer.“

Simulationstraining, Teil zwei. Der Patient ist ein zwei Meter langer Stab, gefüllt mit Helium. Die zwölf Mediziner sollen ihn jeweils nur mit dem Zeigefinger halten und auf dem Boden ablegen. „Alles verstanden?“, fragt Rall. Irritiert blicken sich die Teilnehmer an: Was soll daran bitte so schwierig sein? Man ist heiklere Operationen gewöhnt.

Schulter an Schulter stehen sie nebeneinander, sechs auf jeder Seite, die Arme ausgestreckt. Kaum lässt Rall den Stab los, kippt er auch schon aus dem Gleichgewicht. Erneuter Versuch, erneutes Scheitern. Frust breitet sich aus.

Die Gruppe ist zunehmend verunsichert

Auch der dritte Versuch misslingt: Rall gibt einer Krankenschwester von hinten einen leichten Schubs, der Stab kommt ins Trudeln. „Was machst du da?“, schimpft der Anästhesist. „Ich kann nichts dafür“, wehrt sich die Schwester. Die Gruppe ist verunsichert. Wer leitet an, wer gibt nach, wer gleicht den Fehler des anderen aus?

Hebamme Claudia erkennt: der Stab sinkt erst dann gleichmäßig, wenn ihn alle zeitgleich immer nur ein kleines Stück absenken. Sie übernimmt das Kommando. „Wenn ich jetzt sage, geht ihr nach unten.“ Langsam erwacht der Teamgeist in der Gruppe, in Etappen sinkt der Stab zu Boden. Operation doch noch geglückt.

„Habt ihr gemerkt, wie schnell eine kleine Störung euer Team aus der Balance bringt?“, fragt Marcus Rall. Einstimmiges Nicken. Jeder in der Runde kennt vergleichbare Situationen: Ein unleserlich beschriftetes Medikament, ein schwierig zu legender Gefäßzugang, schon mault der Chirurg, wie lange das denn dauert. Dabei trifft den Einzelnen oft gar keine Schuld. „Die meisten Fehler liegen nicht an fehlendem Fachwissen oder Geschick“, sagt Marcus Rall. „Sie entstehen durch schlechte Teamarbeit und mangelnde Kommunikation in kritischen Situationen.“

Die Fortbildung ist freiwillig

Nach einer weiteren Übung ist der Trainingstag zu Ende. „Erzählt euren Kollegen vom Seminar!“, bittet Rall die Teilnehmer zum Abschluss. Es klingt wie ein schlechter Scherz: Aber Simulationstrainings wie am Tüpass sind freiwillige Fortbildungen. 300 bis 400 Euro kostet ein Training am Tag, die Teilnehmer müssen das Geld aus eigener Tasche aufbringen. Bei nur ein bis zwei Fortbildungstagen im Jahr entscheiden sich laut Rall die meisten lieber für eine Schulung in ihrem Fachgebiet.

„Viel zu oft üben Ärzte an lebenden Patienten“, sagt Rall. Da es nur wenige Klagen gegen ärztliche Kunstfehler gebe, lohne es sich für Kliniken finanziell nicht, in die Vermeidung von Fehlern zu investieren. „Fehler sind billig, Simulationen teuer.“

Im simulierten Krankenzimmer liegt das Frühchen noch immer in seinem Bett, die Häkelmütze ist leicht verrutscht. Nächster Einsatz in zwei Wochen. Zum Glück ist es nur eine Puppe.