An einem Heiligabend trifft ein Christ NS-Verbrecher Wilhelm Boger. Aus der Begegnung ist ein Theaterstück entstanden, das nun uraufgeführt wird.

Stuttgart - Bis heute weiß Wilhelm Waibel nicht, weshalb er es getan hat. War es Eingebung oder Neugierde. Was war das für ein Impuls, dem er gefolgt ist? Wissbegierde oder Gedankenlosigkeit? Er kann es nicht sagen. Wilhelm Waibel weiß nur, dass er es gemacht hat.

 

Er hat ihn getroffen. Wilhelm Boger. Einen Mann, der Verbrechen begangen hat, viele Verbrechen. Hunderte, Tausende Menschen hat er gequält, gefoltert, getötet. Eigenhändig. Viele weitere hat er töten lassen. Verurteilt 1965 im Auschwitz-Prozess in Frankfurt zu lebenslanger Haft wegen 114 Morden, 1000 gemeinschaftlich begangener Morde und weiterer zehn Fälle gemeinschaftlich begangener Beihilfe zum Mord. Es ist wohl nur ein Bruchteil seiner Schuld.

"Sie haben keine Ahnung, wer ich bin?" (Wilhelm Boger im Theaterstück "Am 24.")

Es geschieht an einem Heiligabend. So viel ist gewiss. Es muss 1976 gewesen sein. Wilhelm Waibel ist sich fast sicher. Es gibt keine Aufzeichnungen dazu, kein Protokoll, nichts, das helfen würde, das Treffen zu beweisen. Die Besuchsverzeichnisse der Haftanstalt sind nicht mehr auffindbar. Das baden-württembergische Justizministerium teilt mit, sie seien wohl vernichtet worden.

Es ist das wichtigste Gespräch seines Lebens

Es macht Wilhelm Waibel ganz verrückt, dass er nicht nachweisen kann, dass das Gespräch stattgefunden hat. Waibel mag Ungenauigkeiten nicht. Auf einem Bild, das Boger als älteren Mann zeigt, erkennt er ihn wieder. Das Gespräch ist Waibel wichtig, es ist das wichtigste Gespräch seines Lebens. Es hat ihn geprägt und mehr verändert, als ihm lieb ist und als es sich der 77-Jährige eingestehen will.

"Gott, was erzählen Sie?" (Werner Wille im Theaterstück "Am 24.")

Als Wilhelm Boger an Heiligabend 1976 Besuch bekommt, ist sein Geburtstag gerade fünf Tage vorbei. Am 19.Dezember 1906 ist er als ältester Sohn eines Kaufmanns in Stuttgart-Zuffenhausen geboren. Auf der Fangelsbach-Bürgerschule macht er die mittlere Reife; seine Lehrer sind wie auch sein Elternhaus deutsch-national eingestellt. Das Soldatische steht in seiner Familie hoch im Kurs.

Schon 1922 tritt Wilhelm Boger dem Jugendbund, dem Vorläufer der Hitlerjugend, bei. Er lernt Kaufmann wie der Vater. 1929 wird er Mitglied von NSDAP und SA, 1930 tritt er der SS bei. 1932 wird er arbeitslos.

Jahrzehntelang hat Waibel seine Geschichte für sich behalte

Kurz nach der Machtergreifung belohnt ihn das System für seine Treue. Am 5. März 1933 wird Boger zur Hilfspolizei nach Friedrichshafen einberufen, kurz danach wird er zur Politischen Polizei versetzt. Im Oktober 1933 kehrt er nach Friedrichshafen zurück, absolviert Lehrgänge und macht Karriere. 1937 erhält er die Beförderung zum Kriminalkommissar. In Friedrichshafen wird er bald wegen seiner grausamen und brutalen Verhörmethoden bekannt.

"Ich bin der Teufel. Die sagen, ich bin der Teufel. " (Boger im Theaterstück "Am 24.")

Jahrzehntelang hat Waibel seine Geschichte für sich behalten, bevor er sie seinem Freund, dem Anwalt und Autor Gerd Zahner anvertraut hat. Zahner dramatisiert unbequeme Regionalgeschichte: die der Zwangsarbeiter in den Singener Großbetrieben, die NS-Vergangenheit von Radolfzell mit SS-Kaserne, KZ und Lebensborn sowie die Prozesse der im religiösen Wahn mordenden Teufelsaustreiber in Singen.

Aus dem Aufeinandertreffen des "Christenmenschen" (Zahner) Wilhelm Waibel mit dem Unmenschen Wilhelm Boger formte Zahner das an Bernhard und Beckett erinnernde Endzeitspiel "Am 24." für zwei Schauspieler. Am morgigen Heiligabend wird es auf dem Alten Friedhof von Singen in der mit Ikonen versehenen St.-Michael-Kapelle als weihnachtliches Kontrastprogramm uraufgeführt, keine hundert Meter von der JVA Singen entfernt. Mit Otto Edelmann als Boger und Raphael Bachmann als Waibel, wobei der zum fiktiven Werner Wille wird, Boger aber Boger bleibt.

Von den Kameraden gefürchtet

"Boger war im Allgemeinen nicht nur von den Häftlingen, sondern auch von seinen eigenen SS-Kameraden als grausam und rabiat in Auschwitz sehr gefürchtet. Er gehörte mit zu denen, die am schlimmsten und grausamsten ihren Dienst verrichtet haben." (Zeuge Adolf Rögner, ehemaliger Häftling in Auschwitz, am 4. November 1958)

Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird Boger als Kriminalsekretär mit dem Aufbau und der Leitung des Grenzpolizeikommissariats Ostrolenka beauftragt. Dort lernt er seine zweite Frau kennen, die Sudetendeutsche Marianne Ittner, mit der er drei Töchter hat. In erster Ehe hat er einen Sohn, zwei Kinder starben kurz nach der Geburt.

Weil er sich im Mai 1941 angeblich weigert, einen Verbindungsoffizier der Wehrmacht auf unauffällige Weise umzubringen, wird Boger nach Berlin geschickt. Nach vier Monaten "Ehrenhaft" wird er zur Bewährung als gewöhnlicher Soldat an die Ostfront geschickt. Boger kommt ins SS-Polizeibataillon und wird bei Wolchow eingesetzt. 1942 erleidet er einen Unterarmdurchschuss und Erfrierungen. Nach seiner Wiedergenesung wird er am 1.Dezember 1942 als Oberscharführer der Waffen-SS nach Auschwitz versetzt. Er ist kurze Zeit bei der Wachkompanie, dann kommt er als Ermittlungsbeamter zur Politischen Abteilung. Zusammen mit Frau und Kindern bewohnt Wilhelm Boger ein kleines Haus außerhalb des Lagers.

"Die Zahl der Opfer, die vor Ihren Stiefeln zertreten, erschlagen, erschossen und vergiftet verendeten, sind ungezählte Tausende. Sie werden den traurigen Ruhm ins Grab nehmen, mehr Menschen vom Leben zum Tod gebracht zu haben als je ein anderer in diesem Lande." (Der ehemalige Insasse des KZ Auschwitz, Fritz Hirsch, in einem Brief an Wilhelm Boger am 12.November 1958)

"Wollen Sie schon wieder gehen, Christenmensch?"

Waibel ist kein Journalist oder Historiker und auch kein Anwalt. Was will er an Weihnachten von einem Massenmörder? Er ist über 40 Jahre alt und hat sich bei Georg Fischer vom Stift zum Prokuristen hochgearbeitet. Er hat eine Frau und zwei Kinder. Erfahrbare Geschichte interessiert ihn.

Ein Pfarrer hat ihm von den Lebenslänglichen erzählt. Mitte der 70er Jahre sitzen neben Boger noch weitere NS-Schwerverbrecher in der Außenstelle der JVA Konstanz ein. Heiligabend klingelt Waibel an der Pforte und trägt seine Bitte vor.

"Wollen Sie schon wieder gehen, Christenmensch?" (Boger im Theaterstück "Am 24." )

Der Mann an der Pforte lässt Waibel warten. Dann kommt er zurück mit der Nachricht, dass da tatsächlich einer sei, der mit ihm sprechen wolle. "Der Wärter klang so, als sei er darüber selber am meisten überrascht", erinnert sich Waibel.

Boger tötet pro Tag oft hundert Menschen oder mehr

Er wird in den Besucherraum geführt. An einem Tisch sitzt Boger. An viele Einzelheiten des Gesprächs kann sich Waibel nicht mehr erinnern. "Ich könnte nicht einmal sagen, wie lange wir miteinander gesprochen haben. Nur, dass es kurz war. Als ich ging, war ich verändert. Von Boger ging eine furchtbare Kälte und ein Zynismus aus, den ich so nie wieder gespürt habe."

Im Frankfurter Auschwitz-Prozess war Boger einer der Hauptangeklagten. Die Monstrosität seiner Taten übersteigt das menschliche Vorstellungsvermögen. In Auschwitz nahm Boger an Selektionen auf der Rampe im Lager Birkenau und im sogenannten Zigeunerlager teil. Er war an Aussonderungen von Häftlingen des Blocks11 beteiligt, "Bunkerentleerungen" genannt. Auch führte er eine große Zahl an Erschießungen an der sogenannten Schwarzen Wand durch. Da Boger im Lager ständig neue Häftlinge zu Verhören festnehmen ließ, reichten die stets überbelegten 28 Arrestzellen nicht aus. Um immer wieder Platz für Nachschub zu schaffen, fanden regelmäßig Erschießungen statt.

"Nur ich weiß, wer ich bin." (Boger im Stück)

Wilhelm Boger ist bei den Erschießungen einer der eifrigsten SS-Männer. Er lässt sich von einem Funktionshäftling jeweils zwei Delinquenten an die Schwarze Wand führen. Sie wissen meist, was sie erwartet. In einem Waschraum haben sie ihre Kleider ausziehen müssen. In Todesangst verrichten sie ihre Notdurft. Ein Funktionshäftling stellt sie vor einer Markierung auf. Dann schießt ihnen Boger mit einem Spezialgewehr mit Schalldämpfer ins Genick. Danach werden zwei neue Kandidaten hereingeführt. Das Blut läuft in eine Ablaufrinne. Nach Zeugenaussagen tötet Boger pro Tag oft hundert Menschen oder mehr.

Die "Bestie von Auschwitz"

Die Erschießungen hatte Bogers Vorgesetzter, der SS-Untersturmführer Maximilian Grabner, eigenmächtig veranlasst, weshalb er 1943 in Weimar von der NS-Justiz wegen Mordes in mindestens 2000 Fällen angeklagt wurde. Die Verhandlung konnte nicht zu Ende geführt werden. Grabner wurde nach dem Krieg in Polen der Prozess gemacht, er wurde hingerichtet. Vor Gericht soll er angeben haben, circa 75000 Häftlinge ohne Befehl ermordet zu haben.

"Meine Hose wurde heruntergelassen, und Boger schlug mit einem Gummiknüppel auf meinen nackten Körper, bis dieser blutunterlaufene Stellen aufwies. Während er schlug, machte er die Bemerkung: ,Du wirst schon etwas sagen - willst du endlich sprechen - ich werde dir schon helfen." (Zeuge Paul Leo Scheidel, ehemaliger Insasse des KZ Auschwitz am 24. September 1958)

Bei den Häftlingen war Boger als "Bestie von Auschwitz" oder "Schwarzer Tod" bekannt. Diesen Ruf hatte er sich auch durch unfassbare Grausamkeit und ein Folterinstrument erworben, das nach ihm "Bogerschaukel" genannt wurde. Dabei wurde ein gefesselter Häftling an einer Eisenstange aufgehängt, die durch die Kniekehlen gezogen wurde. Dann schlug Boger mit Ruten oder Ochsenziemer so lange auf das Gesäß und die Geschlechtsteile ein, bis das Opfer zerschunden, ohnmächtig oder tot war.

Weihnachten ist kein Weihnachten mehr

Bei seinen Vernehmungen stritt Boger alles ab. Später gab er zu, was nicht mehr abzustreiten war, behauptete aber, nur nach den Vorschriften gehandelt zu haben.

"Was ist schlimmer, das Schweigen oder das Lügen?" (Werner Wille im Stück "Am 24.")

Als Waibel wieder vor dem Gefängnistor steht, kommt ihm alles unwirklich vor. Er ist vor Boger geflüchtet. Weihnachten ist kein Weihnachten mehr.

Zum Abschied hatte er Boger gefragt, ob er seine Taten bereue. Wilhelm Boger antwortete: "Ich würde alles wieder ganz genau so machen."