Er war der Mann, der die Mordwaffe besorgte: Im Münchner NSU-Prozess schildert der Angeklagte Carsten S., wie er in die rechte Szene kam und zum Unterstützer des Mord-Trios um Beate Zschäpe wurde.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

München - Als die Vernehmung von Carsten S. gegen Mittag schon einigermaßen weit fortgeschritten ist, sagt der Vorsitzende Richter Manfred Götzl im Münchner Oberlandesgericht: „Hören Sie, mit Wahrscheinlichkeiten ist hier keinem gedient.“ Er meint es nicht so unfreundlich, wie sich sein hartes Fränkisch anhört. Er hätte nur gerne präzisere Erinnerungen, wenn es ginge.

 

Carsten S., mittlerweile 33 Jahre alt, schaut hoch, streicht sich ein wenig verlegen die Haare aus der Stirn – und antwortet mit einem Schulterzucken. Es ist nicht so, dass er sich nicht bemühen würde, aber die Zeit von vor fünfzehn Jahren verschwimmt ihm manchmal buchstäblich. Es ist, als würde er die Dinge von damals, als er Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos kennen lernte, ohne sie anscheinend jemals wirklich zu kennen, wie unter Milchglas zur Beobachtung heranholen. Relativ gut weiß er Szenen am Rande. Details. Aber es sind nicht die zentralen, sondern eher unwesentliche: die Erinnerung ist unscharf.

Carsten S. hat sich – nach einem ersten, manchmal wirren, aber ausführlichen biografischen Exkurs am Tag zuvor – noch einmal neue Notizen gemacht: Böhnhardt zum Beispiel habe eine braune Uniform und hohe Stiefel getragen, als er ihn das erste Mal sah, „vor Herbst 1997 auf jeden Fall“. Das war in Jena, und Carsten S. war auf dem Sprung von einer jugendlichen Nahe-Null-Existenz zu einer kleinen Nummer bei den lokalen Neonazis. „Mehr kommt nicht wieder“, ergänzt er oft. In diesem Fall: Böhnhardt beim Dart-Spielen. Es ist die Zeit, in der Carsten S. mit der neuen Clique – nicht alle sind Nazis – zum Beispiel eine mobile Dönerbude umwirft, angetrunken und nach einer langen Nacht. „Wenn da ☺ne Bockwurstbude gestanden hätte, gehe ich davon aus, hätten wir das nicht gemacht“, schiebt er nach.

Carsten S. besorgt die Pistole, weil man ihm vertraut

Einmal treten andere und er auf zwei Leute ein, die „einen Kumpel als Nazi  beschimpft haben“. „Warum?“, fragt Richter Götzl, dem es darum geht zu erfahren, ob Carsten S. „Folgen“ seines Handelns „abschätzen“ konnte. Damals wohl kaum. Später las Carsten S. „in der Zeitung, dass die verletzt waren“. Weiter denkt es nicht in ihm.

Eine „Weltanschauung“ hat er eher nicht. Nur so ein Gefühl, „dass eine multikulturelle Gesellschaft Deutschland schadet“. Da sei, gibt er zu, ein „gewisses Feindbild“ gewesen. Aber nichts Genaues. Auch später nicht, als er selber für die NJ (Jugendorganisation der NPD) Schulungen abhält, die meistens Saufgelage sind.

Die Angeklagten Beate Zschäpe und Ralf Wohlleben (der offenbar wichtigste personelle Bezugspunkt von Carsten S.) werden sich in diesem Prozess nicht äußern. Somit kommt der Aussage von Carsten S. eine große Bedeutung zu. Wie kommt man, als isolierter Jugendlicher, in Neonazi-Kreise? Wie wird man, mindestens, zum Handlanger einer Gruppe, die mordend durch Deutschland zieht? Carsten S. scheint – das belegen auch die ausführlichen Vernehmungsprotokolle der Staatsanwaltschaft – jemand zu sein, der auf Schwingungen reagiert. Ein Initiationserlebnis ist die Fahrt zur Münchner Demonstration gegen die Wehrmachtsausstellung 1997. Auf einmal – anscheinend zum ersten Mal in seinem Leben – gehört Carsten S. zu anderen dazu, die ihrerseits am liebsten die Reihen schließen. Er passt sich an. Will „Gutes“ tun.

Als Ralf Wohlleben, den Carsten S. schwer belastet hat, als es um die Waffenbeschaffung ging, an ihn herantritt, um Hilfe für das untergetauchte Trio Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos zu organisieren, stellt er keine weiteren Fragen. Er hatte jetzt „Respekt, mir ging’s gut, ich habe mich stark gefühlt.“ Jeder des Trios war älter als er. Vor Älteren hatte er immer Respekt, und natürlich habe man Leute in Schutz nehmen müssen, die auf der Flucht vor der Polizei waren. Warum Wohlleben ihn als Mittelsmann aussuchte? „Er fand mich vertrauenswürdig, glaube ich“, sagt Carsten S. Er übernimmt den Telefonkontakt, räumt Zschäpes alte Wohnung auf (deren Türe er eintreten muss), nimmt Akten mit, die er nicht anschaut. Die Akten werden verbrannt. Dann beschafft er („Es muss 1998 gewesen sein“) die Waffe, mit der später neun Menschen ermordet werden.

Ein williger Befehlsempfänger

Carsten S. ist Befehlsempfänger und stets willig. Er bekommt „Order“ – zumeist von Ralf Wohlleben – und folgt. Bis er 2001 aus der Szene aussteigt und ein neues Leben im Rheinland anfängt (Studium, Aids-Hilfe, etc.), wird er tun, was man ihm sagt. Ohne Bedingungen, ohne jede Reflexion. Diskutiert wird nicht. Immer wieder fügt er sich autoritären Charakteren. „Führten Sie alles ohne Skrupel aus?“, fragt Richter Götzl. „Kann ich mich nicht dran erinnern“, antwortet Carsten S.

Glaubwürdig – manchmal enervierend glaubwürdig – ist Carsten S., wenn er seine Willenlosigkeit beschreibt, die zu seinen Handlungen führt. Unglaubwürdiger wirkt er – und die Verteidigung von Beate Zschäpe und Ralf Wohlleben wird genau dort ansetzen – wenn er behauptet, sich bei seinen Aktionen „nichts gedacht“ zu haben. Zumindest nichts, was er noch „zusammen bekommen“ könnte.

Keine „konkreten Erinnerungen“ hat er daran – auch das wird noch wichtig werden -, was in ihm vorging, als bei der Waffenlieferung ein angeblich nicht bestellter Schalldämpfer dabei war. Carsten S. will heute „nichts rund machen“, was er nicht mehr weiß von früher. Er gibt den im Jenaer „Madley“ empfangenen Schalldämpfer und die Pistole weiter. Das wäre Beihilfe zum Mord in neun Fällen. Es gab, sagt er, „keine Alternative“, die Waffe plus Schalldämpfer weiter zu geben. Warum nicht? Er weiß es nicht. Nicht heute – und damals erst recht nicht.

Ein unterbelichtetes Verhältnis zu Daten

Gegen Ende des Nachmittags geht das Gericht dazu über, alte Zitate von Carsten S. gegenüber der Staatsanwaltschaft von ihm selbst noch einmal kommentieren zu lassen. Der Senat tut das auch deshalb, weil Carsten S. ein sehr unterbelichtetes Verhältnis zu Daten hat.

Rätselhaft zum Beispiel – aber soweit dringt die Verhandlung am Mittwoch noch nicht vor - , dass Christian S. sich daran zu erinnern glaubt, Beate Zschäpe im Umfeld der Waffenlieferung zuletzt im Chemnitzer „Galeria Kaufhof“ gesehen zu haben. Diese eröffnete erst im Oktober 2001, als Carsten S. angeblich schon längst ausgestiegen war. Zudem waren in diesem Herbst bereits vier Mordtaten mit der Waffe verübt worden.

Wer schoss? Die Verhandlung wird am heutigen Donnerstag fortgesetzt.