Wir leben im Zeitalter des Hasses: Hass ist eine menschliche Emotion. Es kommt darauf an, ihn zu regulieren – gerade jetzt, wo er mit aller Macht in unsere große und kleine Welt zurückkehrt. Ein Essay von Stefan Geiger.

Stuttgart - Das Ausmaß des Hasses ist oft unvorstellbar. Auch und gerade deshalb sind die Morde und Anschläge des rechtsterroristischen NSU erst aufgeklärt worden, als sich die Täter selbst ihrer Verbrechen bezichtigten: Niemand wollte sich vorstellen, dass allein Hass das Motiv dieser schrecklichen Taten sein könnte. Die Opfer hatten den Tätern nichts getan, sie kannten sie nicht einmal. Die Täter hatten keinen Anlass zum Hass; es ging ihnen vergleichsweise gut; sie waren für das, was ihnen am Leben missfiel, selbst verantwortlich. Trotzdem mordeten sie.

 

Und sie sind nicht die Einzigen. Der Hass, von dem manche glaubten, sein Zeitalter sei überwunden, nimmt weltweit wieder zu. Gläubige, die eng verwandten Religionen angehören, morden einander. Im früheren Jugoslawien meuchelten sich Menschen, die einander zuvor friedliche Nachbarn waren. Und dabei fällt auf, dass die Opfer des Hasses zumeist schwach sind: Kleingewerbetreibende mit ausländischen Wurzeln, Obdachlose, Flüchtlinge, Arbeitslose. Wer begreifen will, wie dünn der zivilisatorische Firnis ist, muss nur auf einen Schulhof gehen und hören, wie grenzenlos abfällig dort über Homosexuelle gesprochen wird. Der Hass vagabundiert.

Hass ist eine zutiefst menschliche Emotion

Dabei ist der Hass keineswegs blind. Der NSU-Terror hat gezeigt, wie berechnend, wie zielgerichtet, wie planend und kraftvoll Täter voller Hass agieren können – so zerstörerisch, am Ende zumeist auch selbstzerstörerisch, wirkt der Hass, der durch nichts gebremst wird. Nicht durch Empathie. Nicht durch Moral. Nicht durch Vernunft. Nicht einmal durch den Willen zur Selbsterhaltung. Menschen voller Hass sind die schlimmsten Krieger, aus der Sicht ihrer Herren also: die besten Krieger.

Wir alle wissen aus Erfahrung, wozu der Hass befähigen kann, in Deutschland spätestens seit der Nazidiktatur. Aber wir wollen es nicht wahrhaben, weil er so unmenschlich wirkt.

Doch ob es uns gefällt oder nicht: Hass ist eine zutiefst menschliche Emotion. Er ist ein elementares und starkes Gefühl, viel verbreiteter, als die meisten zugeben wollen. Wer lieben kann, kann auch hassen. Es sind die beiden Extrempole derselben Regung. Jedes Kind weiß, wie leicht es ist zu hassen. Der Hass und die Macht sind ein widerstreitendes, unzertrennliches Paar. Hass baut derjenige auf, der sich gegen schwere Verletzungen nicht wehren kann. Der Mächtige hat keinen Anlass, den Schwachen zu hassen. Der Hass gründet meist in der Ohnmacht. Sie muss nicht real sein, es genügt das Gefühl der Ohnmacht. Oft geht es nur um Einbildung.

Noch die schlimmsten Täter wollen geliebt werden

Hass kann eine angemessene Reaktion auf Zustände der Ohnmacht sein. Der Unterdrückte hasst den Tyrannen. Was denn sonst? Der Misshandelte hasst seinen Folterer. Hoffentlich. Es wäre verhängnisvoll, würde er sich auch noch auf ihn einlassen. Die wenigsten sind bereit, auch die andere Wange hinzuhalten. Und alle wissen, dass dies meist nicht zielführend wäre. Wem großes Unrecht geschieht, der hasst. Der Psychologe Erich Fromm beschreibt den „reaktiven“ Hass als Antwort auf einen Angriff nicht nur gegen das Leben, auch gegen die Sicherheit und die Ideale eines Menschen: „Reaktiver Hass setzt immer voraus, dass jemand eine positive Einstellung zum Leben, zu anderen Menschen und zu Idealen hat.“

Man muss diesen Hass aushalten können. Das gilt für jene, die hassen. Das gilt aber auch für jene, die gehasst werden. Wer einem anderen Menschen einen Tort antut, wer ihm Schmerzen zufügt, gleich welcher Art, ganz gleich, ob er dazu formal berechtigt ist oder nicht, ganz gleich, ob es dafür eine Rechtfertigung gibt oder nicht: wer sich so verhält, läuft ein hohes Risiko, gehasst zu werden. Erwarten diese Menschen im Ernst etwas anderes? Manche schon: „Ich liebe euch doch alle“, sagte der Stasichef Erich Mielke am Ende seiner Karriere. Er wollte geliebt werden. Es gibt unzählige große und kleine Mielkes in der Welt.

Wenn die Dämme brechen

Die wenigsten, die gehasst werden, wissen es: Der, der hasst, muss seine Gefühle dem gegenüber, den er hasst, verbergen. Er darf sie nicht ansprechen. Es bekäme ihm sonst schlecht. Die Machtverhältnisse sind so. Hier liegt die Ursache, dass der Hass oft umgeleitet wird auf die, die mit dem Konflikt gar nichts zu tun haben, auf die Sündenböcke. Der Hass gegen den Stärkeren gerinnt zur sadistischen Grausamkeit gegenüber dem Schwächeren. Dies ist das Gefährlichste und Schlimmste, was Hass bewirkt. Es geschieht immer wieder und gerade auch dann, wenn die Täter nur sich selbst hassen und in dem selbst verschuldeten Wahn leben, ohnmächtig zu sein.

Der Hass wuchert besonders stark in Gruppen und Gesellschaften, die keine Strukturen schaffen, um ihn einzudämmen, die keine angemessenen Modelle zur Konfliktbeilegung zur Verfügung stellen. Der Hass flammt auf in Phasen, da sich die Macht bei wenigen ballt und deshalb bei all den anderen die Angst wächst. Aber der Hass entzündet sich nicht entlang der gesellschaftlichen Bruchlinien. Er verselbstständigt sich. Es hassen gerade die, die keinen Anlass dazu haben, jene, die keinen Anlass dazu geben. Aber es sind letzten Endes doch die gesellschaftlichen Bedingungen, die das aktivieren, was Erich Fromm als die andere, die charakterbedingte Form des feindseligen Hasses beschreibt. Dessen Protagonisten empfinden Befriedigung und Spaß an ihrem Hass. Der NSU ist ein prägnantes Beispiel dafür.

Lernen, Konflikte auszutragen

Wer die schlimmsten Folgen des Hasses dämpfen will, der muss ihm Grenzen setzen. Das gilt sowohl für das Individuum wie für die Gesellschaft. Dazu müssen beide aber zunächst einmal die Existenz dieser Emotion akzeptieren. Beide müssen lernen, mit dem Hass leben zu können. Beide müssen die Fähigkeit entwickeln, ein starkes Gefühl zu bändigen und zu domestizieren, ihm eine produktive Richtung zu geben. Sie müssen lernen, Konflikte auszutragen, so gut und so sachbezogen es eben geht. Sie müssen lernen, sich von einem Gefühl nicht überwältigen zu lassen, sondern der Vernunft, wenn schon nicht der Moral den entscheidenden Raum zu geben.

Das Verhängnis beginnt überall dort, wo es nicht gelingt, den Hass zu regulieren. Dann brechen die Dämme.