Die von der Freien Kunstakademie genutzte alte Fabrik am Neckar muss saniert werden. Durch die Auflagen könnten die Kosten bei rund 760 000 Euro liegen. Der Oberbürgermeister Otmar Heirich sucht nun nach Verhandlungsspielraum.

Nürtingen - Der Schreck ist den Nürtinger Stadträten in die Glieder gefahren. Rund 760 000 Euro soll die Sanierung des maroden Daches der Freien Kunstakademie (FKN) kosten. Noch vor fünf Jahren ging die Verwaltung davon aus, dass man mit 250 000 Euro auskommt. Die Kostensteigerung hängt mit den Bestimmungen des Denkmalschutzes zusammen. Angesichts der Summe hat der Gemeinderat am Dienstag nicht wie geplant die Sanierung beschlossen. Zunächst spricht der Oberbürgermeister Otmar Heirich mit dem Denkmalamt noch einmal über die Auflagen, um die Kosten zu begrenzen.

 

Durch das Dach regnet es in die Fabrik

Das Dach der denkmalgeschützten Fabrik weist „stellenweise erhebliche Undichtigkeiten auf“, heißt es im Gutachten des Ingenieurbüros Dr. Schäcke und Bayer, das die denkmalgeschützte ehemalige Baumwollspinnerei unter die Lupe genommen hat. Tatsächlich läuft bei Regen an einer Stelle das Wasser so stark in das zweite Obergeschoss, als wäre ein Wasserhahn aufgedreht. Studenten stellen dann Eimer auf, um das Wasser aufzufangen. Eine solche Szene haben sie mit der Videokamera festgehalten und als Teil einer Filmproduktion beim vergangenen Rundgang gezeigt.

Eine Besonderheit der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebauten Fabrik ist die noch originale Industrieverglasung. Die Fensterbänder aus Drahtglas zu retten ist laut dem Chef des städtischen Eigenbetriebs Gebäudewirtschaft Nürtingen (GWN), Volkmar Klaußer, nicht möglich. Denn für eine Sanierung müssten die Drahtglaselemente erst einmal ausgebaut werden, was aufgrund von verrosteten Schrauben aber nicht geht.

Es gibt eine teurere und eine günstigere Variante

Die Fensterbänder sollen nun denkmalgerecht ausgetauscht werden. Mit welchem Aufwand dies zu geschehen hat, ist einer der Knackpunkte bei der Dachsanierung. Ein weiterer Punkt ist die Art der Dachziegel. Zwei Kostenberechnungen gibt es: einmal die Lösung für 760 000 Euro und eine günstigere Variante für 530 000 Euro.

Das Landesamt für Denkmalpflege will dem in den nächsten Tagen anstehenden Gespräch nicht vorgreifen: „Das Landesamt und die Stadt werden im gemeinsamen Bemühen um den Erhalt des für Nürtingen wichtigen Kulturdenkmals der Fabrik Melchior nach einer Lösung für das Problem der Dachsanierung und deren Kosten suchen“, erklärt die Sprecherin des Regierungspräsidiums, Nadine Hilber. GWN-Chef Klaußer strebt eine „einvernehmliche Lösung“ mit der Behörde an, „um die jeweils berechtigten Interessen des Denkmalschutzes, der Stadt und der Gebäudenutzer unter einen Hut zu bekommen“.

Zeitplan durch Verzögerung noch nicht in Gefahr

Fakt ist, dass ohne eine Dachsanierung die Fabrik gefährdet ist. „Um Schädigungen an der Tragkonstruktion zu vermeiden, muss dringend saniert werden“, heißt es im Bericht des Ingenieurbüros. Eine neue Wärmedämmung soll die derzeit „enormen Heizkosten für das Gebäude“ erheblich senken. Volkmar Klaußer zufolge soll die Sanierung noch in diesem Jahr beginnen. Den Zeitplan sieht er durch die jetzt eintretende Verzögerung noch nicht in Gefahr.

Vor einem Jahr hatte der Nürtinger Gemeinderat entschieden, die dringendsten Reparaturarbeiten an dem aus der Fabrik und der Villa bestehenden Gebäudeensemble in die Wege zu leiten. Zudem hob das Gremium den Verkaufsbeschluss für das Melchiorareal auf. Vor vier Jahren hatte die Stadt der FKN nach mehr als 30 Jahren den Mietvertrag gekündigt und versucht, die älteste ehemalige Industrieanlage Nürtingens an Investoren zu verkaufen, was allerdings scheiterte. Zwischenzeitlich wurde die Kündigung ausgesetzt. Im vergangenen Jahr erhielt die Akademie einen neuen, auf fünf Jahre befristeten Vertrag.

2016 gibt ist ein doppeltes Jubiläumsjahr

Der Spinnereibetrieb auf dem Areal geht auf das Jahr 1816 zurück, und im nächsten Jahr besteht die FKN seit 40 Jahren. Dieses Doppeljubiläum will die Akademie 2016 gebührend feiern.

Friedrich Otto beginnt 1816 mit der Bauwollspinnerei

Pionier
: Der Industrielle Friedrich Otto nimmt 1816 am Nürtinger Neckar eine durch Wasserkraft angetriebene Spinnerei in Betrieb. Sie ist die erste Baumwollspinnerei Württembergs. Dann übernimmt Friedrich Ottos Sohn Heinrich das Unternehmen. Die Spinnerei und Weberei in Nürtingen geht 1873 auf Heinrichs Schwiegersohn Albert Melchior über. Das Werk in Unterboihingen bekommt Heinrich Ottos ältester Sohn Robert.

Rettung
: Die Firma Melchior stellt 1976 den Betrieb am Nürtinger Neckar ein. Fünf Jahre später rollen die Bagger an. Die Freie Kunstakademie (FKN) stemmt sich erfolgreich gegen den vollständigen Abriss der Fabrik, die seit 1987 unter Denkmalschutz steht. Durch Eigenleistungen und Eigenkapital der FKN, Spenden von Privatleuten und Firmen sowie durch öffentliche Zuschüsse – unter anderem von der Stadt Nürtingen – wird das Industriegebäude 1984 saniert und zur Ausbildungsstätte von Kunststudenten.

Jubiläum
: 200 Jahre Industriegeschichte und 40 Jahre FKN – 2016 gibt es Grund zum Feiern. Die FKN plant in Kooperation mit der Stadt und anderen Partnern ein vielseitiges Jubiläumsprogramm. Die Details stehen noch nicht fest.