Das Stadtmuseum und die Freie Kunstakademie widmen sich mit einer Doppelausstellung der Geschichte des Melchior-Areals. Aus der ehemaligen Produktionsstätte für „feine Strickwaren“ ist eine Kreativwerkstatt für Studenten geworden.

Nürtingen - Der Baumwollspinnerei Otto, später Melchior, verdankt Nürtingen viel. Sie war der erste Industriebetrieb der Stadt und einer der ältesten in Württemberg. 1816, vor genau 200 Jahren, holte Friedrich Otto einen Uhrmacher aus Paris, um mit ihm nach englischem Vorbild eine Maschine zu bauen, an der ein Arbeiter die Arbeit von bisher acht erledigen konnte. Um die Wasserkraft zu nutzen, siedelte er die Fabrik am Neckar an. Nürtingen, die „Stadt der feinen Strickwaren“, wie es einmal hieß, wurde ein Standort der Textilindustrie. Das Stadtmuseum und die Freie Kunstakademie Nürtingen (FKN) widmen sich jetzt in einer Doppel-Ausstellung, die am 29. April um 18 Uhr im Museum und um 19.30 Uhr in der FKN eröffnet wird, der Geschichte des Melchior-Areals.

 

Paradebeispiel für Konversion von Industriearealen

Vor 40 Jahren wäre die Spinnerei beinahe abgerissen worden. Schließlich brachte es der Bildhauer Karl-Heinz Türk mit Unterstützung des Denkmalamts fertig, wenigstens einen Teil der Fabrikanlagen zu retten, die sich ursprünglich bis zur Neckarbrücke erstreckten. 1981 nahm dort die Freie Kunstschule den Betrieb auf, nachdem das Gebäude mit tatkräftiger Hilfe künftiger Studenten instand gesetzt worden war. Wenn heute die Konversion von Industriearealen für künstlerische Zwecke von Berlin bis Karlsruhe republikweit für Aufmerksamkeit sorgt: die heutige Freie Kunstakademie Nürtingen war eines der ersten Beispiele. Dennoch sollte die FKN vor vier Jahren ihre angestammten Räumlichkeiten verlassen.

Nach einigem Hin und Her konnte die Kündigung abgewendet werden, und die Akademie hat nun einen auf fünf Jahre befristeten Mietvertrag. Da die Bedeutung der Kunstschule und des Areals ihrer Ansicht nach im Bewusstsein Nürtingens nicht genügend verankert war, kam Katrin Burtschell, die Leiterin der FKN, auf den Gedanken, sich an das Stadtmuseum zu wenden, um eine gemeinsame Ausstellung zu konzipieren.

Strickmaschine trifft auf Playstation 2

So sind Bestände des Stadtmuseums an die Kunstakademie gewandert und aktuelle Kunst an das Museum. Eine frühe Stechuhr, ein Spulenwagen und ein Stehpult – der Schreibtisch des Fabrikanten –, stehen in dem Gebäude, aus dem sie stammen. Dazu passend hat Fabian Kühfuß, Dozent der FKN, einige Maschinen konstruiert, die in der Galerie der Akademie im Rahmen der Ausstellung „The Concrete Turn“ die Geschichte der Industrialisierung und Automatisierung von rückwärts aufrollen.

Auf einem alten Tonbandgerät dreht sich eine Spindel, die den Faden eines aufgezogenen Strickstoffs aufnimmt. Gleich anschließend wird er an einer Strickmaschine, wie sie früher für Heimarbeit verwendet wurde, erneut verarbeitet. Eine automatisierte Playstation 2, ein autonomer Rollator und andere Geräte ergänzen das Programm. Ein weiterer Apparat steht im Museum. Um ihn herum führen 18 Tafeln, von der Historikerin Petra Garski-Hoffmann erarbeitet, die Geschichte des Standorts vor Augen, der seit 1884 nach einem Schwiegersohn dritter Generation den Namen Melchior-Areal trägt.

Künstlerische Vision von der Stadt am Fluss

Es ist die Geschichte der Industrialisierung in der Nussschale: Mit der Dampfmaschine und der Gründung von 18 Tochterfabriken war im 19. Jahrhundert ein Höhepunkt erreicht. In der Wirtschaftswunderzeit folgte der allmähliche Niedergang der Textilindustrie. Eine Folge war die Vernachlässigung des Areals und seiner Geschichte. Doch Nürtingen verdankt auch der Freien Kunstakademie viel: unter anderem 1996 die Umwidmung zur Hölderlinstadt durch das Projekt „Heimsuchung eines Dichters“. Oder den Umstand, immer wieder die Aufmerksamkeit auf den Fluss gelenkt zu haben. 2005 druckte der Künstler Patrick Huber Postkarten, auf denen Badende am Neckarstrand vor der Stadtsilhouette zu sehen waren. Darunter stand: „Grüße aus Nürtingen“. Für manche vielleicht ein Scherz. Und doch könnte so das Nürtingen von morgen aussehen.