Studenten lernen, wie man Trockenmauern baut. Die Stützbauwerke erleben eine Renaissance, weil ihre Bedeutung als Refugium für seltene Tier- und Pflanzenarten erkannt wird.

Nürtingen - Es ist eine schweißtreibende Arbeit. Ein Dutzend Studentinnen und Studenten der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen (HfWU) haben den Hörsaal gegen das Hofgut Tachenhausen eingetauscht. In einem Hangbereich des Lehr- und Versuchsgartens bauen sie Natursteintrockenmauern. Es handelt sich um Mauern aus Sandstein ohne Verwendung von Mörtel – in jener traditionellen Bauweise, die im württembergischen Raum weit verbreitet und beispielsweise in Weinbau-Steillagen anzutreffen sind. Die wärmespeichernden Stützbauwerke sind nicht nur gut für den Wein. Sie bilden gleichzeitig wertvolle Biotope für Tiere und Pflanzen.

 

Das Wissen um den Bau von Trockenmauern schwindet

Zwei Tage lang nimmt Martin Bücheler die Studenten des Studiengangs Landschaftsarchitektur unter seine Fittiche. Der Stuttgarter ist Feldmaurer und hat den Umgang mit Zweispitz und Fäustel von der Pike auf gelernt. In dem Praxiskurs gibt er sein Wissen an die jungen Leute weiter. Angehenden Landschaftsarchitekten, Ingenieuren und Bauleitern vermittelt er Kenntnisse, die für die Planung, Ausschreibung und Ausführung von Mauerprojekten unverzichtbar sind. Die Studenten bekommen so das Rüstzeug an die Hand, das sie später einmal beispielsweise für die Sanierung von Weinbergtrockenmauern benötigen. „Das Wissen auf diesem Gebiet erodiert. Deshalb ist es sehr wichtig hier gegenzusteuern“, sagt Beate Hüttenmoser, die Betriebsleiterin der Lehr- und Versuchsgärten der HfWU.

„Mauern heißt die Steine anzupassen“, erklärt Martin Bücheler seinen Schülern. Die Steine sollen wegen der Stabilität großflächig aufeinander liegen. „Dabei gilt es, möglichst wenig abzuschlagen und materialschonend zu arbeiten“, leitet der Feldmaurer die Studenten an.

Tummelplatz für Insekten, Eidechsen und Nattern

Zum dritten Mal findet der von der Staatlichen Lehr- und Versuchsanstalt für Gartenbau Heidelberg organisierte Kurs statt, und es sollen weitere folgen. „Die Trockenmauern erleben eine Renaissance“, sagt der Studiendekan für Landschaftsarchitektur an der HfWU, Sigurd Henne. Die Gesellschaft habe inzwischen den ökologischen Wert der Mauern verstanden. Durch ihre Hohlräume sind sie einzigartige Refugien. Tagsüber speichern die Mauern die Sonnenwärme und geben diese bis in die späten Nachtstunden wieder ab. Im Innern der Mauern finden sich hingegen kühle und feuchte Stellen. Seltene Farne, Spinnentiere und Insekten sowie Mauereidechsen und Schlingnattern fühlen sich im Lebensraum Trockenmauer wohl.

Für die Erhaltung und den Wiederaufbau von zuvor dem Verfall preisgegebenen Mauern gewährt der Staat finanzielle Zuschüsse an die Winzer. An Beispielen für die Renaissance des Trockenmauerbaus in der Region Stuttgart mangelt es nicht. Die Landeshauptstadt etwa fördert die Erhaltung der stadtbildprägenden Trockenmauern seit 2014 mit jährlich 600 000 Euro. Zwischen Oppelsbohm und Necklinsberg (Rems-Murr-Kreis) wird ein zugewucherter Weinbergweg entstrüppt und eine Trockenmauer als Lebensraum für Pflanzen und Tiere wiederhergestellt.

Weinbergterrassen sind die Chinesische Mauer der Schwaben

Auch in Besigheim (Kreis Ludwigsburg) werden Trockenmauern saniert. Dort kann die Kommune die Sanierung von Steillagen als Ausgleichsmaßnahme auf ihrem Ökokonto verbuchen. Die Mauern sind indessen nicht nur gut für den Wein und die Natur. Sie haben auch ihren optischen Reiz. „Ob im Remstal, am Neckar oder an der Enz – vor allem in unseren Flusstälern reiht sich eine bekannte Steillage an die andere“, sagt Hermann Hohl, der Präsident des Weinbauverbands Württemberg. Vom Cannstatter Zuckerle bis zu den Hessigheimer Felsengärten gibt es hier auf engstem Raum eine Vielzahl von Weinbergterrassen mit Millionen von verbauten Sandsteinen. „Eine unvergleichliche Kulturlandschaft – quasi die Württemberger Variante der Chinesischen Mauer“, schwärmt der Verbandspräsident Hohl.

Rund 1000 Hektar terrassierte Mauerweinberge im Südwesten

Historisch
Die ersten Mauerweinberge in Terrassenform sind bereits vor mehr als 800 Jahren angelegt worden. Die Pioniere rodeten Wald, schufen Mauern und schütteten Terrassen auf. Um Steine zu bekommen, erschlossen sie Steinbrüche. Das Ergebnis sind Kulturlandschaften mit offenen, mediterran anmutenden Sonnenhängen. Die Rebstöcke finden hier spezielle Bedingungen. Die besonderen Lagen sind die Voraussetzung für die Produktion von sehr guten Weinen.

Steil
In Baden-Württemberg gibt es rund 28 000 Hektar Rebflächen. Davon entfallen rund 1000 Hektar auf terrassierte Mauerweinberge. Deren Bestellung ist ein mühseliges Geschäft. Weil der Einsatz von Maschinen nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich ist, müssen fast alle Arbeitsgänge in Handarbeit ausgeführt werden. Mit einer Neigung von 75 Grad gilt der zwischen dem Schwarzwald und der Rheinebene gelegene Engelsfelsen in Bühlertal als steilste Weinlage Europas.

Ausgezeichnet
Auch der Weinbau in Esslingen ist durch Steillagen und Weinbergterrassen geprägt. Der Esslinger Weinerlebnisweg und der Esslinger Weinwandertag sind am Montag in Heilbronn mit dem Weintourismus-Preis Baden-Württemberg ausgezeichnet worden. Der Erlebnisweg gestattet nicht nur großartige Ausblicke auf die mittelalterliche Altstadt, sondern informiert an 20 Stationen über die Geschichte der Terrassenweinberge und über die Arbeit im Weinberg.