Fritz Kuhn geht „back to the roots“, zurück zu den Wurzeln. Seine eigenen liegen in Stuttgart unter anderem in der Gartenstadt Luginsland, oberhalb von Untertürkheim. Hier hat die Familie Kuhn zwölf Jahre lang in einem auffällig unauffälligen Mehrfamilienhaus am Stadtrand gelebt. Die Söhne Leon und Mario sind hier geboren worden, ihr Vater rüttelte im baden-württembergischen Landtag als Fraktionschef der Grünen an den Stühlen mehrerer Ministerpräsidenten, die immer ein Parteibuch der CDU besaßen. Es schien ein Naturgesetz zu sein.

 

Willard Dornes legt seine Stirn in Falten. Es ist schon eine Weile her, seit Fritz Kuhn sein Nachbar war, man sich auf der Straße über Gott und die Welt, aber selten über Politik unterhielt und Kuhn zur Gartenparty kam, als Dornes’ Mutter ihren 70. Geburtstag feierte. Dornes arbeitet als Hausarzt in Luginsland, er kennt die größeren und kleineren Wehwehchen im Viertel: „Den Lebensmittelladen gibt es nicht mehr, die Häuser sind für viele Familien kaum mehr bezahlbar, ansonsten ist es eine ruhige Gegend hier, aus der die Leute ungern wieder wegziehen.“ Fritz Kuhn? „Der war zugänglich und ist ohne jede Allüren aufgetreten, der kam hier schon gut an.“ Früher war Luginsland eine Hochburg der Arbeiterklasse. Die Gartenstadt wurde vor rund 100 Jahren von Monteuren und Schlossern der Daimler-Motorengesellschaft gegründet. Noch immer wohnen viele ehemalige und aktive Daimler-Mitarbeiter hier, erzählt Dornes. „Von denjenigen, die früher SPD gewählt haben, wählen heute viele Grün.“

Lob von Günther Oettinger

Günther Oettinger kann sich einen Reim darauf machen. Nach der Landtagswahl 1984 betrat er erstmals als Abgeordneter den Stuttgarter Landtag – und nahm auf einer der hintersten Bänke Platz. „Das war eine spannende Zeit“, erzählt der Energiekommissar der Europäischen Union. „Im Landtag gab es dank den Grünen eine neue Streitkultur. Fritz Kuhn und Rezzo Schlauch setzten dem Ministerpräsidenten Lothar Späth zu. Plötzlich sahen die Sozialdemokraten als anderer Teil der Opposition steinalt aus.“

Obwohl Fritz Kuhn zwei Jahre jünger ist als Oettinger, stand er als Fraktionsvorsitzender seiner Partei sofort im Rampenlicht. „Er war intelligent, fordernd und ein kämpferischer Redner“, erzählt Oettinger und redet über den Respekt, den Fritz Kuhn wegen seiner Fachkompetenz unter vielen Abgeordneten besaß – unabhängig von deren Parteizugehörigkeit. Doch Oettinger kennt auch andere Facetten von Fritz Kuhn: „Er hat viele in der eigenen Fraktion spüren lassen, wenn er sich ihnen überlegen fühlte, und es war nie seine Stärke, zu integrieren, er hat zugespitzt.“

Um 19.15 Uhr öffnet sich ein Spalier im Raum. Die Hitze ist beinahe unerträglich, als Fritz Kuhn und Winfried Kretschmann den Raum betreten. Kuhn kämpft sich Schritt für Schritt voran durch dieses Treibhaus der Emotionen, dann steht er mitten im grünen Hexenkessel und wird von „Fritz! Fritz“-Rufen empfangen. Rezzo Schlauch ist einer der ersten, der sich Fritz Kuhn zur Brust nimmt: eine schnelle Umarmung, einen Klaps auf die Schulter, für mehr bleibt jetzt keine Zeit. Auch für Rezzo Schlauch schließt sich an diesem 21. Oktober 2012 ein Kreis.

Viel Zeit ist vergangen auf dem langen Marsch der Grünen in Stuttgart, der sie von ihren Kernvierteln im Westen und im Heusteigviertel hinaufgeführt hat zu Spitzenergebnissen auf den Halbhöhen, und der sie nun sogar mehrheitsfähig in Bad Cannstatt und in Außenbezirken wie Vaihingen und Plieningen gemacht hat. Über manche Rückschläge und etliche Erfolge sind viele Jahre ins Land gezogen, und einige der Leitwölfe der Grünen sind ergraut.

Rezzo Schlauch grinst. Wenige Tage vor Fritz Kuhns Triumph sitzt er im ersten Stock eines Italieners in der Calwer Straße. Zum Weißwein hat er Salat bestellt, es ist wirklich so. „Mich sprechen bis heute wildfremde Leute auf der Straße auf meine OB-Kandidatur an“, erzählt er und nickt mit dem Kopf hinüber zur Seite, „da drüben saßen wir damals, der Fritz und ich, im Chambre Separee und haben auf die Wahlergebnisse gewartet.“

Herbst 1996: Rezzo Schlauch trat im OB-Wahlkampf gegen Wolfgang Schuster an, vor dem zweiten Wahlgang roch es nach einer Sensation. Schlauch breitet noch einmal das politische Panorama dieser Zeit aus. Er redet darüber, wie damals der Anfang vom Abstieg der Sozialdemokraten begann, er erzählt, dass er es kaum fassen konnte, wie viele namhafte Unternehmer für ihn spenden wollten: „Das war vorher für mich unvorstellbar.“

Heute sind die Grünen ein Teil des bürgerlichen Blocks

Fritz Kuhn zog damals als Schattenmann von Rezzo Schlauch die Fäden. Nicht nur wegen seiner Statur verschwand er beinahe hinter dem Volkstribun. „Fritz Kuhn war der strategische Kopf, er hat die langen Linien der Politik entwickelt“, erzählt Schlauch. In den Anfangsjahren der Partei hätten viele gesagt, dass die Grünen vom Fleisch der SPD seien. Schlauch und Kuhn haben das nie geglaubt. „Für uns besaß es keinen politischen Nährwert, uns nur nach der SPD auszurichten, wir mussten auf das bürgerliche Lager schauen.“

Im entscheidenden Wahlgang holte Rezzo Schlauch gegen Wolfgang Schuster 1996 mehr als 39 Prozent der Stimmen. Das galt als politische Sensation, „damals stand der bürgerliche Block in Stuttgart noch uneinnehmbar“, erzählt Schlauch. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Doch inzwischen sind die Grünen selbst ein Teil dieses bürgerlichen Blocks geworden. Die langen Linien des Finanzexperten Fritz Kuhn haben ihn selbst im Herbst seiner politischen Karriere von Berlin nun wieder in den Südwesten Deutschlands geführt: in Stuttgarts grünes Rathaus.

„Er war intelligent, fordernd und ein kämpferischer Redner“

Fritz Kuhn geht „back to the roots“, zurück zu den Wurzeln. Seine eigenen liegen in Stuttgart unter anderem in der Gartenstadt Luginsland, oberhalb von Untertürkheim. Hier hat die Familie Kuhn zwölf Jahre lang in einem auffällig unauffälligen Mehrfamilienhaus am Stadtrand gelebt. Die Söhne Leon und Mario sind hier geboren worden, ihr Vater rüttelte im baden-württembergischen Landtag als Fraktionschef der Grünen an den Stühlen mehrerer Ministerpräsidenten, die immer ein Parteibuch der CDU besaßen. Es schien ein Naturgesetz zu sein.

Willard Dornes legt seine Stirn in Falten. Es ist schon eine Weile her, seit Fritz Kuhn sein Nachbar war, man sich auf der Straße über Gott und die Welt, aber selten über Politik unterhielt und Kuhn zur Gartenparty kam, als Dornes’ Mutter ihren 70. Geburtstag feierte. Dornes arbeitet als Hausarzt in Luginsland, er kennt die größeren und kleineren Wehwehchen im Viertel: „Den Lebensmittelladen gibt es nicht mehr, die Häuser sind für viele Familien kaum mehr bezahlbar, ansonsten ist es eine ruhige Gegend hier, aus der die Leute ungern wieder wegziehen.“ Fritz Kuhn? „Der war zugänglich und ist ohne jede Allüren aufgetreten, der kam hier schon gut an.“ Früher war Luginsland eine Hochburg der Arbeiterklasse. Die Gartenstadt wurde vor rund 100 Jahren von Monteuren und Schlossern der Daimler-Motorengesellschaft gegründet. Noch immer wohnen viele ehemalige und aktive Daimler-Mitarbeiter hier, erzählt Dornes. „Von denjenigen, die früher SPD gewählt haben, wählen heute viele Grün.“

Lob von Günther Oettinger

Günther Oettinger kann sich einen Reim darauf machen. Nach der Landtagswahl 1984 betrat er erstmals als Abgeordneter den Stuttgarter Landtag – und nahm auf einer der hintersten Bänke Platz. „Das war eine spannende Zeit“, erzählt der Energiekommissar der Europäischen Union. „Im Landtag gab es dank den Grünen eine neue Streitkultur. Fritz Kuhn und Rezzo Schlauch setzten dem Ministerpräsidenten Lothar Späth zu. Plötzlich sahen die Sozialdemokraten als anderer Teil der Opposition steinalt aus.“

Obwohl Fritz Kuhn zwei Jahre jünger ist als Oettinger, stand er als Fraktionsvorsitzender seiner Partei sofort im Rampenlicht. „Er war intelligent, fordernd und ein kämpferischer Redner“, erzählt Oettinger und redet über den Respekt, den Fritz Kuhn wegen seiner Fachkompetenz unter vielen Abgeordneten besaß – unabhängig von deren Parteizugehörigkeit. Doch Oettinger kennt auch andere Facetten von Fritz Kuhn: „Er hat viele in der eigenen Fraktion spüren lassen, wenn er sich ihnen überlegen fühlte, und es war nie seine Stärke, zu integrieren, er hat zugespitzt.“

Die Reibefläche des Politikers Fritz Kuhn ist beträchtlich. „Wenn er sagt, dass heute die Sonne scheine, legt er die Stirn in Falten, als sei er der Gescheiteste auf der Welt“, erzählt Walter Döring. Auch der frühere Wirtschaftsminister der FDP gehört zu Kuhns Weggefährten während dessen Zeit im Landtag. Wenn Fritz Kuhn mal wieder mit erhobenem Zeigefinger und einem nach oben gerichteten Blick auf die Pressetribüne des Landtags Beifall heischend die Finanzpolitik von Schwarz-Gelb attackierte, legte Döring dennoch oft seinen Stift beiseite. Weil es sich lohnte, genauer hinzuhören, was Fritz Kuhn sagte. „Ich habe ihn als klugen Kollegen geschätzt“, erzählt Döring, der heute unter anderem als Unternehmensberater arbeitet. „Vielleicht wäre er auch in Berlin noch weiter gekommen, wenn er diesen Schuss Arroganz nicht hätte.“

Spröde Beharrlichkeit

In der Hauptstadt war es zuletzt ruhiger um Fritz Kuhn geworden. Der frühere Bundesvorsitzende arbeitete bis zum Beginn des OB-Wahlkampfs als stellvertretender Fraktionsvorsitzender. In Stuttgart ist Kuhn mit spröder Beharrlichkeit von einem Wochenmarkt auf den nächsten gezogen, hat sich über Busfahrpläne, fehlende Parkplätze und Feinstaub mit den Menschen unterhalten und offenbar vielen das Gefühl vermittelt, er meine es ernst mit dieser Kandidatur und seinem Plakatspruch, dass es ihm um Stuttgart gehe.

Demnächst wird er gemeinsam mit seiner Frau Waltraud Ulshöfer in Berlin die Koffer packen und einen Umzugswagen bestellen. Wo dieser in Stuttgart halten wird, weiß Fritz Kuhn noch nicht. Nach Luginsland wird die Familie wohl nicht zurückkehren, „von dort ist es doch etwas weit bis zum Rathaus“. Viel Arbeit wird auf den Politiker zukommen und noch weniger Zeit bleiben für das Privatleben. In all den Jahren hat Fritz Kuhn seine private Seite nie öffentlich zur Schau gestellt. Aber wenn sein Freund Rezzo Schlauch von ihm erzählt, dann ist zwar von einem „äußerst disziplinierten“ Menschen die Rede. Aber auch von einem, der „im Landtag immer Mitglied in der Fraktion Lebensfreude war“. „Der Fritz“, sagt Rezzo Schlauch, „kocht hervorragend, seine Spaghetti mit Zitronensauce sind ein Genuss.“

Am Wahlabend bleiben ihm für solche Gedanken keine Zeit. Im großen Sitzungssaal des Rathauses schüttelt Wolfgang Schuster seinem Nachfolger die Hand. In diesem Augenblick bekommt Schuster so viel Applaus von grünen Parteimitgliedern wie noch nie. Dann ebbt der Jubel ab, Fritz Kuhn tritt zum ersten Mal als neu gewählter Oberbürgermeister vor die Mikrofone. Man sieht ihn kaum, nur Kretschmanns Bürstenhaarschnitt ist unverkennbar. „Ich bin einer für ganz Stuttgart“, sagt Fritz Kuhn, während einige Parkschützer „Oben bleiben!“ skandieren. Anfang Januar wird Fritz Kuhn sein neues Büro beziehen: 85 Quadratmeter, beste Stuttgarter Innenstadtlage, Marktplatzblick.