Eine Initiative will neue, durchlässigere Formen der demokratischen Partizipation und mehr Bürgerbeteiligung. Das Internet spielt dabei eine große Rolle.

Stuttgart - Sie nennen sich Meister-Bürger und wollen neue, durchlässigere Formen der demokratischen Partizipation erproben, um die Zukunft der Stadt zu meistern. Liquid Democracy heißt das zu Grunde liegende Prinzip, und das hat nichts mit der Tradition zu tun, wonach sich demokratisch gewählte Repräsentanten nach kontroversen Debatten im Parlament noch fraktionsübergreifend auf einen Umtrunk zusammenfinden.

 

Entscheidungen sollen durchlässiger werden

Es ist vielmehr ein Konzept, das zum Ziel hat, die Vorteile des parlamentarischen Systems mit Elementen der direkten Demokratie zu kombinieren. Entscheidungen der politischen Gremien sollen durchlässiger werden, die Bürger so mehr Mitspracherecht erhalten. Der primäre Weg dazu ist das Internet. Ausgehend vom breit angelegten Bürgerprotest gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 wollen die drei Stuttgarter Initiatoren der Aktion Meister-Bürger, der Unternehmensberater Wolfram Bernhardt, die in der Weiterbildung tätige Katrin Steglich und der ebenfalls in einer Unternehmensberatung tätige Christian Mäntele dieses Engagement in produktive Bahnen lenken. Ginge es nach ihnen, dann sollen die Stuttgarter Bürger jenseits von parteipolitischen Vorfestlegungen und Strukturen einen Bürgermeisterkandidaten nominieren, der ihre Interessen vertritt. Im Netz werden bereits Vorschläge gesammelt – die Liste reicht von Boris Palmer (Grüne), Bernd Riexinger (Linke) und Hannes Rockenbauch (SÖS) bis hin zum amtierenden Amtsinhaber Wolfgang Schuster (CDU). Aber auch Vorschläge wie der Chef der Drogeriemarktkette DM, Götz Werner, oder der frühere Sprecher der Zeltdorfbewohner im Schlosspark Niko Zahn sind schon eingegangen. Am Ende soll aus den bestplatzierten Kandidaten der Anführer einer neuen „Bürgerlobby“ gewählt werden.

Breite bürgerschaftliche Plattform schaffen

Die Initiatoren wollen ihr Projekt ausdrücklich nicht als Fortsetzung des Stuttgart-21-Protests verstanden wissen. „Der Bahnhof war der Aufhänger, aber der Bahnhof ist nicht alles“, sagt Christian Mäntele. Vielmehr wollten die Meister-Bürger eine breite bürgerschaftliche Plattform schaffen, auf der sich die vielfältigen Gruppen und Initiativen in der Stadt miteinander vernetzen und inhaltlich austauschen können. „Da ist ein Riesenpotenzial an guten Ideen vorhanden, das genutzt werden muss“, sagt Katrin Steglich, in deren Stuttgart-Salon die Idee geboren wurde.

Allerdings wollen sich die Meister-Bürger in Zukunft nicht nur mit der von oben verordneten Bürgerbeteiligung abspeisen lassen. Steglich: „Wir wollen nicht nur mitreden, sondern auch mitentscheiden.“ Auch der studierte Politikwissenschaftler Christian Mäntele bezeichnet die herkömmlichen Beteiligungsverfahren als „überholt“. Die drei Meister-Bürger verstehen ihre Initiative aber nicht als „Kriegserklärung an die Parteien“, so Wolfram Bernhardt. Es gehe vielmehr darum, dass politische Engagement jenseits der etablierten Strukturen zu fördern. Es geht ihnen nicht darum, einen Heilsbringer als OB-Kandidaten zu finden, sondern die Bürger selbst zu motivieren, ihre Kompetenz in die Politik einzubringen. Erste Gespräche mit Bürgerinitiativen hat es bereits gegeben, auch die Kontakte zum parteifreien Bündnis SÖS im Gemeinderat sind geknüpft. Von den anderen Fraktionen gab es bisher keinerlei Resonanz – bis auf ein Gesprächsangebot der Grünen.

Bürgermeistercheck in Planung

Weitere Aktionen im Vorfeld der OB-Wahlen sind schon in Vorbereitung. So soll es einen Bürgermeistercheck geben, bei dem sich alle Bewerber für den Chefsessel im Rathaus den Fragen der Bürgerschaft stellen sollen – in welchem Rahmen, das steht noch nicht fest.

Völlig offen ist auch, ob die drei Idealisten mit ihrer Initiative Erfolg haben. Hoffnung schöpfen sie aus Beispielen vor der Haustüre – und im fernen Reykjavík . In der isländischen Hauptstadt war mitten in der weltweiten Finanzkrise der Musiker und Komiker Jón Gnarr – als aussichtsloser Spaßkandidat angetreten – zum Rathauschef gewählt worden, weil die Bürger „von den etablierten Parteien die Nase gestrichen voll“ hatten. Und im benachbarten Nürtingen (Kreis Esslingen) erzielte die von Bürgern per Twitter und Facebook zur Konkurrentin des amtierenden Rathauschefs aufgebaute Kulturbürgermeisterin Claudia Grau bei der OB-Wahl 2011 immerhin 39 Prozent der Stimmen – obwohl sie gar nicht offiziell kandidiert hatte.

// Weitere Informationen unter

www.meisterbuerger.org