Der Regisseur Stephan Kimmig verdichtet am Deutschen Theater drei antike Autoren zu einem packenden Theaterabend.

Stuttgart - Aus den Lautsprechern dringen Kinderstimmen. Zitathaft bringen sie die Tragödie eines Mannes zu Gehör, der schwerste, allerschwerste Verbrechen begangen hat. Ödipus ist Vatermörder und Mutterschänder in eins geworden, ein Titan der Ur-Schuld also, dessen fatale Verstrickungen nun voller Unschuld, mit hellem, leichtem, unbeschwertem Klang aus dem Off vorgetragen werden. Und natürlich bleiben die lesenden Erstklässler an Worten und Sätzen hängen, die ihnen unverständlich sind, natürlich stolpern sie buchstäblich durch das Drama des Sophokles, das uns Nachgeborenen heute vollkommen fremd, in Urzeiten entrückt vorkommen muss. Aber: muss es das wirklich? Kann man diesen „König Ödipus“ nicht vielleicht doch an die Gegenwart rücken, ohne sich beim Publikum anzubiedern?

 

Man kann. Und man kann uns nicht nur Sophokles spielend nahe bringen, sondern auch andere Klassiker aus der griechischen Antike. In einem herkulischen Kraftakt wuchten der Regisseur Stephan Kimmig und sein Dramaturg John von Düffel jetzt gleich mehrere uralte Dramen auf die Bühne des Deutschen Theaters, miteinander verkuppelt und verschmolzen an einem einzigen Abend. Auf den „König Ödipus“ des Sophokles folgen im zweiten Teil ihrer kühnen Klassikeraddition „Sieben gegen Theben“ von Aischylos und „Die Phönizierinnen“ von Euripides sowie, als dritter und letzter Teil, die „Antigone“, wiederum von Sophokles.

Vier Stücke in einem

Vier Stücke von drei Autoren, die freilich alle um denselben Mythos kreisen, um den Fluch, der aus Ödipus einen Vatermörder und Mutterschänder werden und das Königreich Theben letztlich untergehen lässt. „Ödipus. Stadt“ heißt das Antikenprojekt, das mithin eine entschieden politische Absicht verfolgt: Kimmig studiert in Berlin das Räderwerk der Macht und lotet, im Schlussteil der Trilogie, die Möglichkeiten aus, dem unerbittlichen Vernichtungsmechanismus zu entkommen. So schlank wie die Textfassung, vier Dramen in zweieinhalb Stunden, so schlank, schnell und zielstrebig ist nun auch die Spielweise, auf die Kimmig sein Ensemble eingeschworen hat. Mit heiligem Ernst, auf nichts konzentriert als auf Körper und Sprache, bewegen sich die Figuren dem Untergang entgegen, ohne Umwege, ohne Mätzchen und ohne Einwürfe antiker Chöre, die im jeweiligen Original das Unheil beratschlagen und aufschieben. Dieses Kollektiv ist gestrichen und durch ein anderes ersetzt worden: Das Publikum im Saal fungiert als Volk von Theben und mithin als Adressat der Reden, die auf der mit schickem Parkett ausgestatteten Einheitsbühne von Katja Haß gehalten werden. Ihr Raum bäumt sich, wenn er auf die Brandmauer prallt, nach oben auf – und ein wildes Aufbäumen zeigt auch Ulrich Matthes, der sich als Ödipus gegen das gnadenlose Schicksal stemmt.

Dieser Ödipus ist ein sehniger und hagerer Asket, der eigentlich alles durchschauen und durchdringen müsste. Sein Blick ist stechend und bohrend, finster und unerbittlich, nichts dürfte diesem Augenpaar entgehen. Und doch übersieht der thebanische Herrscher das Wesentliche, er ist blind für den von Göttern über ihn verhängten Fluch, der sich mit dem Mord an seinem Vater zu erfüllen beginnt. Wenn sich Matthes/Ödipus an den Totschlag erinnert, fiebert er sich in einen Gewaltrausch, der seinen ganzen Asketenleib zum Beben bringt. Und wenn er sich ob der endlich erkannten Tragik die Augen aussticht, bricht aus seinem aufgerissenen Mund ein stummer Schrei aus, höhlenhaft grässlich und leer wie bei Edvard Munch. Bei allem Jähzorn hier, bei allem Wimmern da – nie unterläuft Matthes auch nur ein falscher Ton, immer beglaubigt er mit allen Fasern das unermessliche Leid, dessen er sich gerade inne wird.

Von Auftrag zu Auftrag

Nicht alle Mitspieler bringen diese ungeheure Spannung, diese Kraft und Energie auf, zwei dann aber doch noch: Susanne Wolff als hochpräsenter Kreon sowie Katrin Wichmann als Antigone, die das letzte Wort in diesem Polit-Thriller hat, gerichtet an den neuen Herrscher, eben Kreon. „Sehe das Ende deiner Tyrannei / und in der Dunkelheit, die kommt / Die Rebellion der Toten gegen eure Lügen! / Gegen Eure Lügen!“, prophezeit die Tochter des Ödipus, die vermutlich heute, mehr als zweitausend Jahre später, den Aufstand der Jugend anführen würde. Unterdes aber eilt der vielbeschäftigte Stephan Kimmig weiter von Regieauftrag zu Regieauftrag. Anfang Oktober besorgt er, ebenfalls in Berlin, die Uraufführung des neuesten Stücks von Yasmina Reza: „Ihre Version des Spiels“ mit Corinna Harfouch in der Hauptrolle. Nur drei Wochen später ruft das Stuttgarter Schauspiel, wo er den „Stallerhof“ von Franz Xaver Kroetz mit „3 D“ von Stephan Kaluza verschneidet. Und es gibt Grund, sich auch auf dieses Kimmig-Experiment zu freuen.