Russland wähnt die USA als Drahtzieher hinter dem Verfall der Ölpreise. Der Ölpreis, der fallende Rubelkurs und die Sanktionen wegen der Ukrainekrise seien Teil einer „groß angelegten Strategie zum Sturz Putins“. Analysten kommen zu anderen Schlüssen.

Moskau - Die USA und Saudi-Arabien wollen den Ölpreis auf 50 bis 60 US-Dollar pro Barrel senken, um Russland und Iran unter Druck zu setzen und die ungeliebten Regime kollabieren zu lassen“ – was nach Verschwörungstheorien von Politdilettanten klingt, stammt von einem der einflussreichsten Männer Russlands. Die Rede ist von Nikolai Patruschew, einem persönlichen Freund von Kremlherrscher Wladimir Putin, dem er einst als Geheimdienstchef diente. Inzwischen ist er Koordinator des Nationalen Sicherheitsrates.

 

In dieser Eigenschaft gab er der „Rossijskaja Gaseta“, dem Amtsblatt der russischen Regierung, ein Interview, in dem er die Ursachen für den Absturz des Ölpreises analysierte. Fazit: mit rasantem Verfall des Ölpreises hätten die USA schon in den 80er Jahren den Angriff auf die von Rohstoffexporten abhängige Sowjetunion eröffnet und diese mit zusätzlichen Ausgaben für Hochrüstung und Schüren von Unruhen in den Ostblockstaaten, vor allem in Polen, in die Knie gezwungen.

Der Rückgang des Ölpreises belastet den Haushalt schwer

Parallelen zur Krise in der Ukraine, wo nach russischer Lesart ebenfalls ein Staatsstreich mit US-Unterstützung stattfand, drängen sich aus seiner Sicht geradezu auf. Der Westen wolle Russland zu kostspieligen Gegenmaßnahmen provozieren und auch sonst wirtschaftlich ähnlich unter Druck setzen wie einst die Sowjetunion.

Russische Experten treiben ähnliche Befürchtungen um. Wie in den 80er Jahren, so heißt es in einem Report des Russischen Instituts für Strategische Studien – einem Thinktank, der vor allem politische Analysen für den Kreml erstellt – gebe es Abmachungen zwischen den Vereinigten Staaten und Saudi-Arabien, den Ölpreis durch Überproduktion zu drücken. Der sinkende Ölpreis, der seit Anfang Oktober stark fallende Rubelkurs – auch dafür verorten die Autoren die Drahtzieher in Washington – und die Sanktionen des Westens wegen der Ukrainekrise seien Teile einer „groß angelegten Strategie zum Sturz Putins“.

Der russische Staat braucht viel Geld

Der starke Rückgang des Ölpreises, an den auch die Entwicklung der Gaspreise gekoppelt ist, belastet den russischen Staatshaushalt schwer. Mehr als die Hälfte der Einnahmen stammt aus den Erlösen für Energieexporte. Nicht nur der Trend zur Rezession, warnen Experten unter anderem vom russischen Finanzhaus Renaissance, werde sich verfestigen, wenn der Ölpreis dauerhaft unter der Grenze von 90 Dollar pro Fass bleibt. Auch der auf der Basis von 100 Dollar pro Fass kalkulierte Haushalt für 2015 gerate aus den Fugen, warnen Experten. Der Staat braucht viel Geld: Die Integration der Krim kostet schließlich etliches.

Auch habe Putin Unternehmen, die von den Sanktionen betroffen sind, massive staatliche Unterstützung zugesagt und vor seiner Wiederwahl 2012 ein Füllhorn sozialer Wohltaten ausgegossen. Nun steht er bei den Bürgern im Wort, selbst geringfügige soziale Grausamkeiten könnten seine rekordverdächtigen Zustimmungsraten von derzeit mehr als 80 Prozent auf weniger als die Hälfte schrumpfen lassen. Nach russischem Politikverständnis aber ist ein Präsident ohne absolute Mehrheit nur noch bedingt legitimiert und ein angeschossenes Wild. Zwar sind neue landesweite Massenproteste angesichts der hoffnungslos zerstrittenen, an programmatischen Defiziten krankenden Opposition derzeit wenig wahrscheinlich, doch die russische Geschichte zeigt, dass die Massen im krassen Gegensatz zu Lenins Revolutionstheorie in der Praxis bei Umstürzen – wenn überhaupt – stets nur eine Statistenrolle spielten.  

Es gibt wachsende Differenzen innerhalb der Eliten

Weiße wie rote Zaren stürzten bei Palastintrigen, angezettelt von der Hofkamarilla oder dem Politbüro und damit von der engsten Umgebung der Selbstherrscher. Dort lauert auch für Putin die einzig reale Gefahr. Medien spekulieren derzeit heftig über die wachsenden Differenzen innerhalb der herrschenden Eliten. Strittig ist seit Langem, wie der Reichtum Russlands verwaltet und aufgeteilt werden soll. Sinkende Gewinnmargen im Energiebereich befeuern jetzt das Gerangel zusätzlich und könnten auch Putin die Macht kosten: Für Verzicht auf politische Ambitionen und Loyalität zahlte Putin Russlands Machtelite, zu der auch sein Freundeskreis gehört, vor allem mit einer Münze aus: mit der Förderung ihrer Geschäftsinteressen.

Embargo und sinkende Ölpreise, glaubt Michail Kasjanow, der vor dem Zerwürfnis mit Putin sein Amt als Premier ebenfalls als Sprungbrett in die Kaste der Superreichen benutzt haben soll, würden das System Putin in einem Jahr kollabieren lassen. Russlands Oligarchen werden den Teufel tun und gegen Putin meutern, fürchtet der Politologe Roman Gontscharenko. Putin habe mit seinem staatskapitalistischen Wirtschaftsmodell alle Schaltstellen mit Leuten besetzt, die hundertprozentig von ihm abhängig sind. Diese hätten Russland ein System übergestreift, in dem allein der Gedanke an Aufruhr das Eigentum kosten kann. Eine abhängige Justiz wird bei Bedarf schnell fündig, wenn sie wegen Wirtschaftsvergehen ermittelt. Fast alle Oligarchen – auch kremlkritische – haben Dreck am Stecken.   

Gekonnt spielt Putin die Oligarchen gegeneinander aus

Es ist indes nicht nur die Angst, mit der Zuchtmeister Putin die Oligarchen in Schach hält. Gekonnt spielt er sie auch gegeneinander aus. Konkurrierende Interessen verhindern, dass sich das Großkapital wenigstens kurzzeitig auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners zusammenrottet. Auch hat bisher keiner der Mächtigen einen Plan für den Tag danach. Weil Putin die Spielregeln ständig ändert, denken die Oligarchen nicht strategisch, sondern taktisch. Und sehen in Russland, wie nationalkonservative Patrioten rügen, nicht ihr Vaterland, sondern eine Kuh, die es zu melken gilt.