Das Paznauntal mit der Silvretta-Gruppe ist ein Kletter- und Wanderparadies für Familien - auch dank der Erstbesteigung der Ochsenspitze vor mehr als 150 Jahren. Sie war die Initialzündung für den Tourismus.

Montagmorgen an der Natursteinkletterwand von Galtür. Ein knappes Dutzend Kinder hat sich um Bergführer Christoph Pfeifer geschart, der erklärt, was es beim Klettern alles zu beachten gibt. Wie man den Gurt anlegt, wie man einen Achterknoten macht und dass der Karabiner immer festgeschraubt werden muss. „Mir ist es ganz wichtig, dass die Kinder von Anfang an auf Nummer sicher gehen“, sagt der Experte. Und freut sich, dass ihn auch die umstehenden Eltern dabei unterstützen. Hier und da noch mal den Helm zurechtrücken und schauen, ob alles richtig sitzt. Heute ist es selbstverständlich, dass alles für das Wohl der Kinder getan wird. Doch das war nicht immer so. Wenn die meisten bei dem Begriff „Schwabenkinder“ automatisch an jene denken, die mit ihren Eltern aus Baden-Württemberg kommen, um Ferien im Paznauntal zu machen, dann hat er für die Einheimischen ganz andere Konnotationen. Man braucht nur ins Alpinarium von Galtür zu gehen, jenem preisgekrönten Erlebnismuseum, das anlässlich des Lawinenunglücks von 1999 errichtet wurde, um zu sehen, dass es noch ein anderes Trauma aufzuarbeiten gab: das der Hütekinder, die sich jahrhundertelang in jedem Frühjahr aus Tirol, Vorarlberg, Südtirol und der Schweiz auf den rund 200 Kilometer langen Weg nach Oberschwaben machten, um sich dort als Hirten, Mägde oder Knechte zu verdingen. Ihre Familien waren so arm, dass sie für jeden Esser weniger am Tisch dankbar waren. Auch aus Galtür kamen viele der Fünf- bis 14-Jährigen. Am Zeinisjoch schauten sie noch einmal zurück auf die Heimat, bevor sie sich auf Kindermärkten als billige Arbeitskräfte anboten.

 

Klettern im Paznauntal

Bis ins 20. Jahrhundert waren die Kindersaisonwanderungen gängige Praxis. Inzwischen finden sie in der Gegenrichtung statt. Wobei es fast durchweg wohlbehütete Kinder sind, die nach Paznaun kommen, um mit ihren Eltern das Gebirgstal von seiner schönsten Seite zu erleben. Haben sie erst mal die Kletterwand am Alpinarium bezwungen, können sie sich am Familienklettersteig am Fuß der Ballunspitze mit 100 Meter Höhendifferenz oder dem anspruchsvollen Silvapark versuchen, der bis auf den 2671 Meter hohen Gipfel hinaufführt. Alternativ bietet der Boulderpark mit acht Sektoren und 160 Stationen jede Menge Herausforderungen. Beim Bouldern wird ohne Seil und Gurt geklettert, aber nur so hoch, dass man jederzeit problemlos abspringen kann. In den letzten Jahren hat sich die Gegend zu einem wahren Kletterterrain entwickelt. Doch wäre es viel zu schade, darüber das Bergwandern zu vergessen, das in gewissem Sinn mit dazu beigetragen hat, das Schicksal der Schwabenkinder zu beenden und vor allem die Abwanderung aus Galtür aufzuhalten. Schließlich ist der 1600 Meter hoch gelegene Luftkurort mit seinen rund 250 Kilometer markierten Wegen und 27 Hütten idealer Ausgangspunkt für Touren in die Silvretta. Jenes Massiv der Superlative im Dreiländereck zwischen Tirol, Vorarlberg und dem Schweizer Kanton Graubünden, wo sich Gipfel und Gletscher aneinanderreihen und ganze 74 Dreitausender zu bewundern sind. Wer will, kann gleich drei an einem Tag bezwingen. Doch muss man keineswegs Extremsportler sein, um ein Stück der Bergwelt für sich zu erobern. Es reicht, mit Wanderbus oder Auto die Silvretta-Hochalpenstraße hinaufzufahren, die sich durch die grüne Almwelt schlängelt.

An der Bielerhöhe auf 2037 Meter Höhe angekommen, eröffnet sich ein fantastisches Panorama. Ringsum Almwiesen und verschneite Bergkuppen, mittendrin schimmert türkis der Silvretta-See. In zwei Stunden lässt er sich bequem - sogar mit dem Buggy - umrunden. Links und rechts blühen rosa Almrausch, gelbe Ringel- und lila Glockenblumen, zwischendurch stürzt ein Wasserfall aus einer Felswand, und weiter oben lugt der eine oder andere Gipfel hervor. Noch näher kommt man denen, wenn man vom Stausee zur Wiesbadener Hütte hinaufsteigt, die mitten in der Silvretta liegt. Oder wenn man sich der geführten Rundtour um den Radsattel anschließt, die mittwochs kostenlos angeboten wird. Erst geht es links am Silvretta-See vorbei ins Bieltal, dann schraubt sich der Weg am rauschenden Bieltalbach entlang in die Höhe. Nachdem man einige Schneefelder überquert hat, erreicht man schließlich den 2652 Meter hohen Radsattel, der auch Landesgrenze von Tirol und Vorarlberg ist. Gleich gegenüber grüßt eine ganze Kette schneebedeckter Gipfel - das Silvrettahorn, die Schneeglocke und der höchste von ihnen, der Große Piz Buin. Den Namen kennt mancher vielleicht nur von der gleichnamigen Sonnencreme. Doch auch wenn die Werbespots dafür heute in Südafrika gedreht werden - zur Erfindung der „Gletschercreme“ hat den Chemiestudenten Franz Greiter der 3312 Meter hohe Gipfel inspiriert, den er 1938 bestiegen und sich dabei böse verbrannt hat.

Piz Buin und Matterhorn wurden gleichzetig erstmals bestiegen

Erstmalig bezwungen haben den Piz Buin der Kaufmann Johann Jakob Weilenmann aus St. Gallen, Joseph Anton Specht aus Wien zusammen mit dem Paznauner Gamsjäger Franz Pröll und dem Viehhändler Jakob Pfitscher aus dem Passeiertal - und zwar an demselben 14. Juli 1865, an dem auch das Matterhorn erstmalig bestiegen wurde. „Das Auge schwelgt im Anblick der rings am Himmelssaum funkelnden Firne, das Herz fühlt sich ergriffen von der feierlichen Stimmung, die durch den unermesslichen Raum weht“, schrieb Weilenmann angesichts der Hunderte von Gletschern, die sich vom Dom im Wallis über die Berner Alpen im Westen bis zu den Ötztaler Gipfeln im Osten ziehen. So kann man es auch 150 Jahre später erleben. Mag sein, dass die „Ochsenspitze“ - so die Übersetzung des rätoromanischen „Piz Buin“ - nicht ganz so prominent ist wie der Schweizer Viertausender. Ein Mythos ist der dritthöchste Berg der Silvretta-Gruppe in jedem Fall. Diverse Bücher erzählen von ihm. „Und ohne ihn würde es vielleicht Galtür in seiner jetzigen Form nicht mehr geben“, ist Bürgermeister Toni Mattle überzeugt. Denn durch die Erstbesteigung wurden immer mehr Bergsteiger auf die Gegend aufmerksam. Für sie errichtete die Sektion Schwaben des Deutschen Alpenvereins 1882 die Jamtalhütte, die so etwas wie die Initialzündung des Tourismus in Paznaun war. Seit dem Aufblühen des neuen Wirtschaftszweigs gibt es auch keine Schwabenkinder mehr. Höchstens die, die aus der Gegenrichtung kommen, um zu klettern und irgendwann vielleicht auch den Piz Buin zu erklimmen.