Was wäre gewesen, wenn die deutsche Wiedervereinigung nicht stattgefunden hätte? Selbstverständlich gäbe es den Kalten Krieg und die Mauer bis heute noch.

Stuttgart - Als Julia S. am Nachmittag des 3. Oktobers 2015 aus dem Zug stieg, empfing sie die übliche Samstagabendmischung im Stuttgarter Hauptbahnhof: Die letzten schwer bepackten Shopping-Opfer schnauften aus der Klett-Passage in Richtung Gleise und mussten dabei der aufgebrezelten Umlandjugend ausweichen, die ihnen aus den eintreffenden Regionalbahnen und von den Rolltreppen der S-Bahn entgegenquoll. Julia S. atmete tief durch. Endlich wieder im sauberen, aufgeräumten Ländle, endlich der feinstaubgesättigten Braunkohleluft drüben entkommen. O wie schön war Westdeutschland!

 

Da sah sie die Patrouillen der Military Police, die entspannt durch die lichtdurchflutete Halle schlenderten. Gelegentlich hielten sie einen der südländisch wirkenden Passanten an: „Your passport please, Sir!“ So wie überall in der Republik, wo es große US-Stützpunkte gab. Patch und Kelley und die neuen, großen „Baracks“ am Stadtrand und in der Region, die nach den Ereignissen im Herbst 1989 eingerichtet worden waren, als der Kalte Krieg noch ein paar Grad kälter geworden war . . . Der Ostblock hatte seine Westgrenze vollends undurchdringlich gemacht, die USA hatten alle Abrüstungsverhandlungen eingestellt, und die Nato hatte flugs ihre neuen Mittelstreckenraketen so stationiert, dass sie auf den Kreml zielten. Was in dessen Mauern wiederum geschehen war, als die alten Kader das Scheitern von Glasnost und Perestroika erklärt und wieder die Macht übernommen hatten, war der Welt verborgen geblieben. Gorbatschow, den man seither nie wieder gesehen hatte, müsste jetzt ohnedies über achtzig sein.

Julia S. rechnete weiter, während sie treppab Richtung Stadtbahnstation lief. Die beiden deutschen Staaten, gegründet 1949, hatten im Vorjahr das Rentenalter erreicht. Aber das Modell Deutsche Teilung war noch kein Fall für den Ruhestand. Es funktionierte munter weiter, und niemand glaubte ernsthaft, dass sich daran je etwas ändern würde. Vor einem Vierteljahrhundert hatte es kurz danach ausgesehen. Überall in Osteuropa – außer im bis heute friedlichen und unter den Tito-Erben touristisch prosperierenden Jugoslawien – hatte der ökonomische Niedergang die Bürger in Massen auf die Straße getrieben. Aber die Panzerbataillone der Armeen des Warschauer Pakts hatten die Aufstände in der DDR und ihren sozialistischen Bruderstaaten blutig niedergewalzt.

Perfekte Abschottung

Danach war das System der Abschottung immer perfekter geworden. Die DDR-Führung hatte ihren ganzen Ehrgeiz daran gesetzt, dem Empfang von Westfernsehen und -radio ein Ende zu bereiten. Internet und Mobilfunk waren gar nicht erst eingeführt worden. Ausgewählte Experten mit gefestigtem Klassenstandpunkt durften an kontrollierten Rechnern E-Mails ins nichtsozialistische Ausland versenden – nach Vorlage bei den Zensurbehörden.

Und nun kehrte sie zurück aus diesem Reich der Ahnungslosen und war von tiefer Dankbarkeit erfüllt – weil sie hineingedurft hatte, um an der Hochzeit ihres Patenkindes teilzunehmen, und weil sie wieder herausgelassen worden war. Möglich waren Reisen nach Ostberlin, Dresden oder Wismar überhaupt erst seit ein paar Jahren. Nach den Ereignissen von 1989 war die innerdeutsche Grenze in beiden Richtungen dicht gemacht worden. Der Bundeskanzler, der bei der anstehenden Bundestagswahl im kommenden Januar seine Partei aller Voraussicht nach wieder zur absoluten Mehrheit führen würde, hatte dem Regime in Pankow in jahrelangen Verhandlungen und gegen mehrere Milliardenkredite dieses Zugeständnis abringen können.

Draußen vor den Fenstern der Stadtbahn sausten blumenampelgeschmückte Laternenmasten mit Wahlplakaten vorbei. Sie zeigten die wohlbekannten ernsten Züge des langjährigen Regierungschefs. Seit der schweren Rezession Anfang der Neunziger hielt er sich im Sattel. Mit Konjunkturprogrammen und Subventionsabbau hatte er die Republik durch diese mageren Zeiten geführt. Heute war er ein alter Mann, aber er hatte noch immer ein Gespür, welche jüngeren Männer auf welchen Kabinettsposten Segensreiches bewirken würden.

„Geht doch nach drüben!“

Sein Wirtschaftsminister etwa hatte zusammen mit dem französischen Kollegen dafür gesorgt, dass die in den 17 EU-Staaten geltenden Grenzwerte für CO2-Emissionen sowohl für Neuwagen wie für Industrieanlagen Jahr um Jahr angehoben wurden. Eine industriepolitische Maßnahme, die sich vor allem im deutschen Südwesten bei jeder Wahl erneut auszahlte. Wenn die Grünen versuchten, dagegen aufzumucken, hatte die Regierungspartei immer einen guten Spruch parat: „Geht doch nach drüben, wenn es euch hier nicht passt!“ Da sei zu besichtigen, wohin sozialistische Misswirtschaft ein Staatsgebilde führe: keine Industrie mehr und trotzdem dreckige Luft. Die Familienministerin, einzige Frau in der Bundesregierung, hatte es nicht leicht, sich zu behaupten. Weniger Bedeutung als sie hatte nur ihr Kollege vom Verteidigungsressort. Die Bundeswehr tat sich hervor bei humanitären Einsätzen im Inland und als Beschäftigungsmaßnahme für junge Männer, die mit der Wehrpflicht schon mal für zwei Jahre von der Straße weg waren.

Wie gut, dachte Julia S., dass in diesem Land die Frauen nicht so auf den Arbeitsmarkt drängten. Man stelle sich vor, die Mädchen wollten auch noch alle in ihrem erlernten Beruf arbeiten, und das womöglich Vollzeit! Aber das war ja eh ausgeschlossen. Wer sollte sich denn um die Kinder kümmern? Immerhin hatte besagte Familienministerin mit Betreuungsgeld und Mütterrente die richtigen Anreize gesetzt. Nicht so, wie die Regierungen in Frankreich oder in Skandinavien, wo die erwerbstätigen Frauen schon ihre Babys von wildfremden Leuten aufbewahren ließen. Ganz zu schweigen von drüben . . .

Sie griff in ihre Tasche und zog die Stuttgarter Zeitung heraus, die sie in einer Mischung aus Heimweh und Freude über den geglückten Grenzübertritt schon beim Umsteigen am Frankfurter Hauptbahnhof gekauft hatte. In der Samstagsausgabe berichteten die Hauptstadt-Korrespondenten aus Bonn ausführlich vom Besuch des US-Präsidenten in der Bundesrepublik.

Jubel auf dem Bonner Marktplatz

Der First Lady, war zu erfahren, hatte besonders der Eifelblick vom Gästehaus der Bundesregierung auf dem Petersberg aus gefallen. In die begeistert jubelnde Menschenmenge auf dem Bonner Marktplatz hatten sich vereinzelte Demonstranten gemischt, die den Abzug der strategischen Atomwaffen aus Deutschland forderten. Für den Abend war ein Schiffskonvoi auf dem Rhein geplant, weshalb seit dem Vortag die Bundesstraßen auf beiden Seiten des Flusses gesperrt waren und die Anwohner zwischen Bad Godesberg und Niederdollendorf ihre rheinseitigen Fenster nicht mehr öffnen durften. „Angesichts des Risses, der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die freie Welt vom Ostblock trennt“, erläuterte der Leitartikel, „steigt die Gefahr terroristischer Angriffe östlicher Geheimdienste.“

Julia S. schüttelte den Kopf. Diese Gefahr stieg und stieg – und war schon je etwas passiert? Sie blätterte weiter zur Wochenendbeilage. Auf der ersten Seite, der „Brücke zur Welt“, fand sie einen Artikel, der ausfabulierte, was aus Deutschland geworden wäre, wenn die Aufstände damals Erfolg gehabt und die Wiedervereinigung herbeigeführt hätten. „Die Sporen sozialistischer Gleichmacherei hätten sich in ganz Westeuropa verbreitet.“

Der Waggon kam mit einem heftigen Rucker zum Stehen. Julia S. erwachte und sah draußen vor den Fenstern den staubigen Bahnsteig. Eilig griff sie nach Jacke und Tasche, hastete zur Tür und stieg aus. Zum ersten Mal löste der Anblick der enormen Baugrube für den Tiefbahnhof Erleichterung in ihr aus. „Was für ein Albtraum“, dachte sie, „was für ein Albtraum.“