Der britischer Neurologe und Schriftsteller Oliver Sacks ist im Alter von 82 Jahren gestorben. Sein Buch „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ war ein Bestseller.

New York - Wissenschaftler, deren Bücher verfilmt und zur Vorlage für ein Theaterstück oder eine Oper werden – von der Sorte dürfte es wenige geben. Oliver Sacks, der am Sonntag im Alter von 82 Jahren in New York starb, war so einer. Freilich gebietet Ehrlichkeit hinzuzufügen, dass seine Buchpublikationen keine reine Fachliteratur waren. Dafür konnte der Neurologe und Mediziner, der als Sohn eines Arztes und einer Chirurgin am 9. Juli 1933 in London geboren wurde und – wiewohl er bereits in jungen Jahren in die USA übergesiedelt war – bis zuletzt seinen britischen Pass behielt, einfach zu gut schreiben und zu fesselnd erzählen. Der erwähnte Film zum Buch machte ihn bekannt, aber auch ohne diese Promotion hätten Sacks’ Bücher wohl Eingang in die Bestsellerlisten gefunden. Nicht nur ihrer literarischen Qualität, sondern der Aufsehen erregenden Erkenntnisse wegen, die sie vor einer interessierten Öffentlichkeit ausbreiten.

 

In Form verständlich erzählter Fallgeschichten liefern diese Bücher tiefe Einsichten in die neuronalen Grundlagen unserer Welt- und Selbstwahrnehmung. Geringfügige neurologische Störungen können uns außer Gefecht setzen oder eine Wirklichkeit vorgaukeln, die es nicht gibt. Nicht nur „Hallucinations“, auf Deutsch unter dem etwas reißerischen Titel „Drachen, Doppelgänger und Dämonen“ erschienen, handelt davon. „Eine winzige Hirnverletzung, ein kleiner Tumult in der cerebralen Chemie – und wir geraten in eine andere Welt“, schrieb er in dem 1985 erschienenen Buch „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“, aus dessen Titelgeschichte sich das Libretto für Michael Nymans gleichnamige Oper speiste.

Am Queen’s College in Oxford hatte Sacks in den fünfziger Jahren Medizin studiert und war nach neurophysiologischen Forschungen zu Beginn der Sechziger in die USA übergesiedelt. 1965 nahm er eine Professur für klinische Neurologie am Albert Einstein College of Medicine in New York City an. 1966 stieß er dann im Rahmen seiner Forschungen über Migräne in einer Klinik in der Bronx auf Überlebende der Europäischen Schlafkrankheit – einer Jahrzehnte zurückliegenden Epidemie. Im Verlauf seiner Experimente mit L-Dopa, einer Vorstufe des Neurotransmitters Dopamin, wachten die Erkrankten kurzfristig auf und legten eine überschäumende Lebensfreude an den Tag. Die in Buchform veröffentlichten Fallgeschichten dienten Harold Pinter als Vorlage für sein Theaterstück „A Kind of Alaska“ und wurden 1990 unter dem Titel „Zeit des Erwachens“ mit Robin Williams und Robert de Niro verfilmt.

Im letzten Buch erzählt er von seinem jüdischen Elternhaus

Anfang 2015 erschien in der „New York Times“ ein Essay, in dem Sacks seine Krebserkrankung öffentlich machte. Angesichts des bevorstehenden Tods wollte er noch einige literarische Werke vollenden. In der Tat erschien vor wenigen Monaten seine Autobiografie „On the Move – Mein Leben“. Auch hier ist Sacks, vom Leitfaden der Chronologie abweichend, ein novellistischer Erzähler – und gleichzeitig Mediziner, dem das eigene Leben gewissermaßen zur existenziellen Fallstudie wird. Schon einmal, in „Der Tag, als mein Bein fortging“, hatte er eine eigene Erkrankung zum Gegenstand, zugleich in der persönlichen Krankengeschichte das Exemplarische, über die Person Hinausweisende zum Thema gemacht. Im letzten Buch nun erzählt er von seinem jüdischen Elternhaus und seinen Freunden, seiner Leidenschaft fürs Motorradfahren und den Schreibblockaden, von Drogenerfahrungen und -abhängigkeiten sowie seiner Besessenheit im Hanteltraining, das ihn auf Sichtweite an die Weltelite im Gewichtheben heranführte.

Sacks’ Werke wurden in 21 Sprachen übersetzt. 2007, mit 74 Jahren, nahm er einen Ruf an die Columbia University an – er unterrichtete jedoch nicht nur als Mediziner, sondern in anderen Fachbereichen, wie der Musiktheorie. Als Verkörperung des Ideals des Gelehrten als umfassend gebildete Persönlichkeit war Sacks Repräsentant einer aussterbenden Spezies: als Autor ein Aufklärer von Passion, der uns alle in der Tat ein wenig klüger und sensibler für uns selbst und die Welt gemacht hat.