Das Internationale Olympische Komitee bestimmt am Freitag den Ausrichter der Winterspiele 2022. Es hat die Wahl zwischen schlecht und schlecht – finden Menschenrechtler.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - In und um München ist zuletzt ein bisschen Wehmut aufgekommen, zumindest bei jenen Kräften, die sich für eine Olympiabewerbung stark gemacht hatten. Wenn aus Sicht der Befürworter nämlich alles nach Plan gelaufen wäre, dann wäre dieser Freitag in Kuala Lumpur ja der Tag der Tage gewesen. Und die Chancen, so hört man, hätten nicht schlecht gestanden, dass Deutschland tatsächlich den Zuschlag für die Olympischen Winterspiele 2022 bekommen hätte. Es ist ein Leben im Konjunktiv, weil der Bürger das Ansinnen Münchens mit Garmisch-Partenkirchen bekanntlich jäh gestoppt hat. „Dass es uns schmerzt, das ist klar“, sagte Alfons Hörmann, der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) kürzlich.

 

Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat deshalb auf seiner Session in der malaysischen Hauptstadt die Qual der Wahl: Almaty (Kasachstan) oder Peking (China). Von den ursprünglich neun Bewerbern für 2022 haben sieben aufgegeben (Barcelona, Krakau, Lwiw, St. Moritz, Stockholm, Oslo, München), meist wegen der erwarteten Kosten oder der lokalen Proteste, manchmal auch wegen beidem. Das also, was nun zur Wahl steht, ist der Rest vom einstmals großen Fest, und der Kater steht schon fest. Mit den verbliebenen Bewerbern begibt sich das IOC zwangsläufig in politisch vermintes Gebiet.

Die Wahl zwischen schlecht und schlecht

Es geht wieder einmal um Menschenrechte, um Pressefreiheit, um das Demokratiedefizit der Bewerber, also um den Wertekanon der Welt und den des Sports, der weder im einen noch im anderen Land vollkommen erfüllt wird. Auf dem Freiheitsindex der angesehenen Organisation „Freedom House“ werden Kasachstan und China mit „nicht frei“ bewertet. „Das IOC hat die Wahl zwischen schlecht und schlecht“, sagt Wenzel Michalski von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.

Schon jetzt steht damit fest: Nach den heftig umstrittenen Olympischen Spielen in Peking (2008) und Sotschi (2014) werden die Spiele 2022 erneut von politischen Diskussionen begleitet werden und die Frage nach der Verantwortung des IOC aufwerfen. „Es wird sicherlich Diskussionen geben, aber die Position des IOC ist klar. Wir nehmen unsere Verantwortung sehr ernst“, sagt der IOC-Präsident Thomas Bach, aber: „Wir sind keine Weltregierung.“

Die Malaise in Malaysia hat vor allem damit zu tun, dass in westlichen Industrienationen bei den Bürgern die Lust auf Olympia gedämpft ist. Dort wird zunehmend die Frage nach der Sinnhaftigkeit der milliardenteuren Veranstaltung gefragt. Nicht zuletzt die massiven Proteste in Boston, die die Bewerbung der Stadt um die Sommerspiele 2024 zu Fall gebracht haben (siehe auch „Ohrfeige vom Chef“), untermauern dies. „Das IOC hat sich eine eigene Falle gebaut, weil es in letzter Zeit auf autoritäre Regime gesetzt hat“, sagt Wenzel Michalski von Human Rights Watch.

Winterspiele gehen oft mit Eingriffen in die Natur einher

Das IOC wehrt sich gegen den Vorwurf, dass Olympia immer stärker zur Propagandabühne von Autokraten verkommen würde. Mit Verweis auf die Gastgeber seit 1998 sowie die Ausrichter 2016 (Rio de Janeiro/Brasilien), 2018 (Pyeongchang/Südkorea) sowie 2020 (Tokio/Japan) sagt der IOC-Präsident Thomas Bach: „Die ganze Diskussion um die angebliche Zurückhaltung von demokratischen Ländern ist eine Mär.“

Es gibt, Boston hin, Boston her, zumindest einen großen Unterschied zwischen Olympischen Sommer- und Winterspielen. Die Strahlkraft der Sommervariante ist ungebrochen, das Bewerberfeld umfangreich und attraktiv. Anders stellt sich das bei Winterspielen dar. Die sind einerseits nicht ganz so prestigeträchtig, und auf der anderen Seite gehen sie oftmals mit massiven Eingriffen in die Natur einher. Das ökologische Bewusstsein wie auch der bezweifelte und (vielfach belegte) Mangel an Nachhaltigkeit der winterlichen Prachtbauten wie etwa Schanzenanlagen oder Rodelkanälen schreckt viele westliche Nationen aus dem witterungsbedingt ohnehin äußerst eingeschränkten Olympia-Kandidatenkreis ab.

Die Spielen sollen wieder wirtschaftlich vertretbar sein

Was bleibt? Länder mit Demokratiedefizit, die sich nicht mit einer renitenten Bevölkerung herumärgern müssen, sondern sich par ordre du mufti bewerben. Wie China. Wie Kasachstan. Das Problem: wenn sich die Demokratien von Olympia abwenden, bleiben eben nur noch fragwürdige Gastgeber, was dann wiederum in der westlichen Welt entsprechend scharf kritisiert wird.

Mit der von Bach forcierten Reformagenda 2020, einer Art Diätprogramm für den ausgeprägten Gigantismus, will das IOC ökonomische Ängste nehmen. Die Spiele sollen wieder wirtschaftlich vertretbar werden. Dadurch, so sagt Bach, seien die Olympischen Spiele wieder begehrt. Damit das IOC mehr Wahl als Qual hat.