Online-Bewertungsportale wie Tripadvisor oder Yelp haben wegen gekaufter oder beleidigender Einträge ihre Unschuld längst verloren. An ihnen entflammt die Diskussion um Anonymität im Netz aufs Neue. Dabei war das alles einmal als tolle Idee gestartet.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Das Internet wurde gerade zum Massenmedium, als Thomas Kopka 2001 das deutschlandweit erste Bewertungsportal für Ärzte ins Internet brachte: checkthedoc.de. Und doch gingen pro Monat nur rund 100 Bewertungen ein. Die Patienten konnten für jeden Arzt Punkte vergeben in Kategorien wie „Finden Sie, dass sich der Arzt genug Zeit für Sie nimmt?“ Auch einen Freitext durften sie schreiben. Nur: „Da kamen teils unmögliche Beurteilungen“, erzählt Kopka, „eine Qualitätskontrolle war für mich nicht möglich.“

 

Die Freitext-Funktion nahm Kopka von der Seite. Als wenig später eine Abmahnung einer Landesärztekammer ins Haus flatterte, hatte er genug von der als Hobbyprojekt gedachten Website. Im Sommer 2003 verkaufte er sie, heute ist sie inaktiv.

Thomas Kopka war es zu viel, 100 Arztbewertungen zu kontrollieren. Auf Portalen wie Sanego oder Jameda sind Millionen solcher Bewertungen hinterlegt – da kann keiner mehr vor der Veröffentlichung drüberlesen. Wer die Texte geschrieben hat, weiß, wenn überhaupt, nur der Portalbetreiber. Das wird nicht nur dann zum Problem, wenn die Seiten für Straftaten wie Verleumdung genutzt werden – am Dienstag sprach der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil in einem solchen Fall. Vielmehr kann man anhand der Bewertungsportale die Diskussion um Anonymität im Netz illustrieren.

Die Logik der Masse

Ob es um Ärzte geht wie bei Sanego, um Unterkünfte wie bei HRS und Tripadvisor oder um Restaurants wie bei Yelp – Bewertungsportale folgen der Logik der Masse. Nicht die (möglicherweise unfaire) Kritik des Einzelnen zählt, sondern das Urteil der Vielen. Wenn hundert Leute etwas gut finden, so die Idee, dann kann es nicht ganz schlecht sein. Nach dieser Logik ist es unerheblich, ob die Bewertungen anonym abgegeben werden oder nicht.

Nur: Rein rechtlich zählt jedes Wort. Dass Portale zur Bewertung einzelner Personen nicht grundsätzlich unzulässig sind, hat der BGH anhand des Lehrer-Bewertungsportals spickmich.de festgestellt. Wird auf solchen Plattformen beispielsweise jemand beleidigt, kann das ein Fall für die Staatsanwaltschaft werden.

In solchen Fällen würde nach der Identität des Autors erst gesucht, wenn ein Strafantrag gestellt ist. Viel weitergehend ist die von dem Stuttgarter Netzaktivisten Alvar Freude ausgemachte „breite Bestrebung, dass die persönlichen Daten aller Autoren vom Portalbetreiber gespeichert werden müssen“. Das wäre in diesem Bereich das von etlichen Politikern geforderte Ende der Anonymität im Netz. Freude, der auch Mitglied der Bundestags-Enquêtekommission Internet und digitale Gesellschaft war, will die Anonymität im Netz mit Verweis auf die Meinungsfreiheit erhalten.

Jeder dritte Bewertung ist ein Fake

Im speziellen Fall der Bewertungsportale ist die Anonymität auch ein Einfallstor für Manipulationen. Es ist ein offenes Geheimnis in der Branche, dass Bewertungen oft vom Anbieter selbst oder in dessen Auftrag geschrieben werden. Der Marketingexperte Krischan Kuberzig hat diese Praxis 2012 per Selbstversuch nachgewiesen. Er schätzt, dass jede vierte Produktbewertung im Netz nicht von ehrlichen Kunden verfasst wurde. Eine Studie der FH Worms kommt zu einem ähnlichen Ergebnis.

Dass es sich dabei um unlauteren Wettbewerb handelt, nimmt man in Kauf. Daraus spricht auch, dass Bewertungsportale als wichtig wahrgenommen werden. Aus demselben Grund bitten Hotelbetreiber ihre Gäste bei der Abreise um eine positive Bewertung bei Tripadvisor. Der Branchenverband Bitkom hat etwa herausgefunden, dass die Mehrheit der deutschen Internetnutzer Bewertungsportale aktiv nutzt. Entsprechend hoch ist für Anbieter der Anreiz, einzugreifen. „Aktives Reputationsmanagement“ heißt das im Fachjargon.

Am Anfang war Euphorie

Nur Lug und Trug im Netz? Verena Mohaupt hat andere Erfahrungen gemacht damals, Ende der Neunziger. Sie hat die Community ciao.de mit gegründet, die bis heute in abgewandelter Form existiert. Die Mitglieder konnten dort Testberichte für Produkte verfassen oder ihre Meinung zu fast jedem Thema äußern. Die Nutzer selbst hätten für eine stete „Selbstreinigung“ der Seite gesorgt, berichtet Mohaupt. Man habe den Kontakt zu sehr aktiven Autoren gepflegt, außerdem hätten Studenten die Beiträge durchforstet und aus der Community seien Hinweise auf schwarze Schafe gekommen. „Das hat richtig gut funktioniert, es war euphorisierend“, erzählt Mohaupt.

Das war in den Anfangstagen des Massenmediums Internets. Als Plattform für die Selbstermächtigung von ehrlich und fair urteilenden Kunden gestartet, wurden Portale wie Ciao schnell als PR-Instrument entdeckt – mit allen genannten Folgen. Viele Seitenbetreiber setzen wegen der Masse der Bewertungen längst auf Computerprogramme, um bezahlte Einträge zu identifizieren und Autoren vor möglicherweise beleidigender Wortwahl zu warnen.

Ob die Probleme der Portale damit gelöst werden können, ist unklar. Pioniere wie Thomas Kopka empfinden „Enttäuschung“ über das, was aus der Bewertungsportal-Idee geworden ist. Netzaktivisten wie Alvar Freude hoffen indes darauf, dass die Probleme der Portale nicht zum Anlass genommen werden, die Anonymität im Internet zu durchlöchern: „Klar finden viele enttäuschte oder aufgeregte Kunden nicht die richtigen Worte. Man kann als Nutzer aber auch die schlechtesten und die besten Bewertungen einfach wegdenken. Das nennt sich dann Medienkompetenz.“