Full Tilt Poker, einer der größten Online-Poker-Anbieter der Welt, soll seine Kunden um mehr als 300 Millionen Dollar betrogen haben.

Stuttgart - Noch vor wenigen Monaten zeigte Chris Ferguson seinen Fans in einem Video, wie man beim Pokern selbst mit den statistisch gesehen schlechtesten Karten seine Mitspieler austrickst und so eine Menge Geld einstreicht. Der Pokerstar, der wegen seiner langen Haare und dem Vollbart "Jesus" genannt wird, hat eine Zwei und eine Sieben auf der Hand - keine aufgedeckte Karte kann ihm helfen. Und trotzdem überzeugt er den Gegner davon, aufzugeben, indem er ihm vorspielt, das beste Blatt am Tisch zu haben. Ein erstklassiger Bluff. Sowohl am Pokertisch in Casinos als auch beim Online-Poker muss man das können, um erfolgreich zu sein. Und obwohl "Jesus" als vorsichtiger Spieler gilt, das Bluffen beherrscht er im Schlaf.

 

Nun hat es Chris Ferguson mit dem Bluffen aber vermutlich zu weit getrieben. Der fünfmalige Poker-Weltmeister, der auch in geschlossenen Räumen ständig Hut und Sonnenbrille trägt, soll mit anderen namhaften Pokerprofis wie Howard Lederer oder Rafael Furst systematisch Pokerspieler auf ihrer Internetseite Full Tilt Poker betrogen haben - um mehr als 300 Millionen Dollar. Das wirft zumindest die New Yorker Staatsanwaltschaft den Profis in einer 103 Seiten langen Anklageschrift vor, die der bekannte Blogger Felix Salmon ins Internet gestellt hat.

Spielprinzip der Pokerseiten ist simpel

Chris Ferguson ist Mitgründer der Online-Pokerseite Full Tilt Poker, die sich in den vergangenen Jahren zu einem der größten Portale weltweit entwickelt hat. Viele Stars der Szene warben für die Seite und lockten Spieler mit der Möglichkeit, dort von den live spielenden Profis lernen zu können. Die Seite setzte jährlich mehrere Millionen Dollar um.

Jetzt kam heraus: seit mindestens einem Jahr spielten die Zocker auf der Seite um Geld, das niemals vorhanden war. Am 31. März dieses Jahres schuldete Full Tilt Poker den Online-Spielern mehr als 390 Millionen Dollar, auf dem Konto des Unternehmens lagen indes nur knapp 60 Millionen Dollar. "Full Tilt Poker ist keine legale Pokerfirma, sondern ein globales Schneeballsystem", sagte Staatsanwalt Preet Bharara. Das Schneeballsystem geht auf den Betrüger Charles Ponzi zurück, der in den 1920er Jahren Anleger um mehrere Millionen Dollar prellte.

Das Spielprinzip der Pokerseiten ist simpel: Man zahlt Geld auf das Konto der Seite und erhält im Gegenzug Guthaben zum Spielen. Wer gewinnt, bekommt virtuelles Guthaben gutgeschrieben, wer das Spiel verliert, verliert auch Guthaben. Im Fall von Full Tilt Poker gewannen die Spieler aber anscheinend Geld voneinander, das nur in der virtuellen Welt, aber niemals auf einem Konto existierte. Denn die Besitzer der Seiten haben sich laut der Anklage von April 2007 bis April 2011 regelmäßig Geld ausgezahlt.

Wie eine Pokerseite Umsatz macht

 Doch der Reihe nach: Umsatz macht eine Pokerseite vor allem durch Turnierstartgelder und Gebühren für die Spiele, auch "Rakes" genannt. Ein geringer Prozentsatz des erspielten Geldes fließt an die Seitenbetreiber. Allein 24 Millionen Dollar erzielte Ferguson an Dividende durch seine Tilt-Anteile, Lederer soll der Anklage nach 38 Millionen und Furst 12 Millionen Dollar kassiert haben. Aber die Pokerstars sollen nicht bloß dieses Geld eingesackt haben, sondern auch das ihrer Kunden. Ferguson erhielt demnach insgesamt 87 Millionen Dollar, Lederer 42 Millionen. Zum Vergleich: der sehr erfolgreiche Ferguson erspielte in seiner Karriere 8,2 Millionen Dollar an Preisgeld, also knapp ein Zehntel seines Full-Tilt-"Gewinns". Die 19 Miteigner sollen auch kräftig mitverdient haben. Sie erhielten insgesamt 444 Millionen Dollar.

Möglich wurde das durch ein jahrelanges Hin und Her mit den Behörden in den USA. Die verbieten nämlich bereits seit 1961 mit einem Gesetz Sportwetten über elektronische Kanäle - das schließt auch Online-Pokern ein. Theoretisch ist Pokern am Bildschirm in den USA also verboten, in der Praxis sieht es anders aus: So pokern momentan 1,7 Millionen Amerikaner online, hat der Branchendienst H2 Gambling Capital berechnet. Dabei versuchte der Kongress, die Hürden zum Glückspiel zu erhöhen: Bereits 2006 verbot der Kongress den Banken, dass sie Geldgeschäfte aus Pokerspielen abwickeln.

Viele Pokerseiten zogen sich danach aus dem amerikanischen Markt zurück, Full Tilt Poker verlagerte sein Geschäft einfach in Länder mit laxeren Glücksspielvorschriften und akzeptierte US-Bürger weiterhin als Spieler. Wegen der geringen Konkurrenz zog es immer mehr Spieler zu Full Tilt. Zwischenzeitlich veranstaltete die Seite Turniere mit gleichzeitig mehr als 50000 Teilnehmern. In dieser Zeit floss mehr Geld auf die Konten von Full Tilt, als die Seite ausbezahlen musste. Das war laut der Anklageschrift die Basis für den Betrug. Den Spielern machten die Betreiber trotzdem weis, dass ihr Geld sicher sei, obwohl es auf die Konten der Stars wanderte. Dieses System funktionierte so lange, wie Full Tilt neue Kunden gewinnen konnte. Doch irgendwann kollabiert dieses System.

Die Beschuldigten weisen jeden Vorwurf von sich

Full Tilt Poker hatte bereits seit einem Jahr große Schwierigkeiten, neue Kunden zu gewinnen. Im April dieses Jahres schloss die Staatsanwaltschaft die drei großen Pokerseiten Full Tilt, Poker-Stars und Absolute Poker in den USA, unter anderem wegen illegalen Glücksspiels und Geldwäsche. Ende Juni entzog die Alderney Gambling Control Commission (AGCC) dem Portal Full Tilt kurzzeitig sogar die weltweite Lizenz; die kleine Insel Alderney liegt im Ärmelkanal und gehört zu Guernsey. Full Tilt war geschlossen, verunsicherte Kunden wollten ihr Geld zurückhaben. Was für Restriktionen auf Full Tilt Poker zukommen, hat die AGCC noch nicht entschieden. Mitten in dem Streit treffen die Betreiber jetzt die Betrugsvorwürfe.

Die Beschuldigten weisen indes jeden Vorwurf von sich. Zwar gab Full Tilt Poker im August bekannt, dass sie das Guthaben der Kunden nicht auszahlen konnten. Grund sei aber höchstens Missmanagement gewesen, sagte ein Anwalt von Ferguson dem Wall Street Journal. Kein Schneeballsystem. 115 Millionen Dollar habe Full Tilt Poker alleine durch die Seitensperre durch das FBI verloren, weitere 45 Millionen Dollar seien Full Tilt von einer Drittfirma gestohlen worden, die die Bezahlung auf der Seite abwickelt.

Wie es mit der Seite weitergeht, ist genauso ungewiss wie die Zukunft der beschuldigten Pokerstars. Gerüchten zufolge will ein französischer Investor die Seite kaufen. In dem Deal soll auch die Rückzahlung der Pokerguthaben enthalten sein, sagte der Anwalt von Full Tilt in einem Interview mit einer Poker-Nachrichtenseite. Die Pokerfans und -spieler sind dennoch verunsichert.

Deutschland ist der zweitgrößte Markt

Und das sind nicht wenige: Nach einer Studie der Universität Hamburg spielen weltweit sechs Millionen Menschen Online-Poker und verzocken dabei insgesamt 3,6 Milliarden Dollar pro Jahr an den virtuellen Tischen. Ausgelöst hatte den Hype der Online-Spieler Chris Moneymaker, der sich 2003 im Internet für ein großes Pokerturnier qualifizierte, es gewann und 2,5 Millionen Dollar einsackte. "Geld machen" wollen viele seit dieser Zeit, in der Folgezeit boomten die Online-Plattformen. Das DSF übertrug oft nächtelang - reale - Pokerturniere, Prominente wie Boris Becker und Lothar Matthäus machten Werbung für die Pokerseiten. Die Nachfrage ist da: Deutschland ist nach den USA der zweitgrößte Markt für Online-Poker, jeder zehnte Spieler kommt aus Deutschland. Mehr als eine halbe Million Deutsche spielen regelmäßig online, ergibt die Studie. Dabei ist Online-Poker auch in Deutschland verboten, geregelt im Paragraf 285 des Strafgesetzbuches: "Wer sich an einem öffentlichen Glücksspiel beteiligt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu einhundertachtzig Tagessätzen bestraft." Es gibt kein legales Angebot in Deutschland, wer vor dem Bildschirm um Geld zockt, macht sich strafbar.

Trotzdem wird Online-Poker in der Realität kaum strafrechtlich verfolgt. "Mir ist nicht bekannt, dass jemand ausschließlich verurteilt wurde, weil er an illegalem Glücksspiel im Internet teilgenommen hat", sagt der Anwalt Martin Bahr, der sich unter anderem auf Glücks- und Gewinnspielrecht spezialisiert hat.

Glückspielrecht ist Ländersache

Die Rechtsprechung in Deutschland für Glücksspiel sei chaotisch, weil niemand genau wisse, welches Recht gilt, sagt Bahr. Im Kern geht es um die Frage, ob in Deutschland nicht auch eine ausländische Lizenz reichen würde, um Online-Pokern anzubieten. Manche argumentieren, dass es die Niederlassungsfreiheit der EU erlauben müsse, dass etwa ein Franzose in Deutschland sein Geschäft betreibe. Andere sagen, Deutschland sei dort autonom und nach deutschem Recht ist Online-Glücksspiel verboten. Im Mai kassierte die Kommission einen Gesetzesentwurf der Bundesländer zum Glücksspielrecht, weil der Entwurf gegen EU-Recht verstößt. Im Oktober starten die Länder einen neuen Versuch. Abgekapselt hat sich hingegen Schleswig-Holstein, das ab kommendem Jahr Glücksspiel erlaubt. Möglich ist das, weil das Glückspielrecht Ländersache ist. Ab dann darf dort auch legal online gepokert werden.

Chris Ferguson wird das nicht interessieren, der Poker-Weltmeister hat momentan andere Probleme. Von der Pokerliga wurden "Jesus" und seine Kollegen bereits ausgeschlossen. Ob und wie sie das Geld zurückzahlen, ist noch unklar. Doch bei allem Konflikt mit dem Rechtssystem kann Ferguson eigentlich froh sein, dass er in einer zivilisierten Welt lebt. Denn früher wurden Falschspieler beim Pokern - wie wir alle aus Wildwestfilmen wissen - ganz einfach erschossen. Das sollte den Tricksern hoffentlich erspart bleiben.

Das Schneeballsystem

Ursprung: Bekannt ist der Begriff Schneeballsystem auch unter dem Namen Ponzi-Trick. Er geht zurück auf Charles Ponzi, einen der bekanntesten Trickbetrüger der Welt, der in den zwanziger Jahren in Amerika Anleger um 13,5 Millionen Dollar brachte.

Trick: Ponzi verkaufte sogenannte Antwortscheine, eine Art Kupons, die man gegen Porto tauschen konnte, wenn man auf Post aus dem Ausland antworten musste. Die konnte man aufgrund von Währungsschwankungen im Ausland billig kaufen und in den USA teurer verkaufen. Viele investierten in Ponzis System, um reich zu werden.

Aufgeflogen: Vom Finanzamt enttarnt: Der Trick bestand darin, dass Ponzi viel weniger Scheine für seine Kunden gekauft hatte, als angegeben. Investoren, die ausbezahlt werden wollten, bezahlte er mit dem Startkapital anderer Anleger. Trotz einer Durchsuchung blieb der Großteil des investierten Geldes verschwunden.