Laien und Profis filmen, bloggen und twittern emsig zum Thema Stuttgart 21. Das jüngste Projekt ist die Online-Wochenzeitung "Kontext".

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Thea Bracht (tab)

Stuttgart - Suchet der Stadt Bestes", heißt es schon im Buch Jeremia. Die Christen gegen Stuttgart 21 haben sich den Bibelspruch als Motto für ihre Homepage ausgesucht. Das Fotografen-Netzwerk "Gegenlicht 21" stellt Bilder ins Netz, während der Befürworter Rudolf Weeber auf der Website www.stuttgart21-ja-bitte.de Unentschlossene informieren will.

 

Nach Monaten des Protests und Gegenprotests überblickt man kaum mehr, welche Gruppen und Einzelpersonen für oder gegen Stuttgart 21 bloggen, twittern und Homepages betreiben. "Schon vor Stuttgart 21 hat es mächtige Gegenöffentlichkeiten gegeben, etwa in Wackersdorf oder Leipzig", sagt der Medienwissenschaftler Jeffrey Wimmer von der Universität Ilmenau, "aber durch den Medienwandel ist die Partizipation für den Einzelnen in den vergangenen zwanzig Jahren viel einfacher geworden." Und natürlich kostengünstiger. Virtuell lässt sich der Protest deutlich schneller und günstiger organisieren als mit Postkarten und Plakaten.

Twitter ist ein wichtiges Medium in Stuttgart

Die Stuttgart-21-Befürworter tauschen sich nach wie vor hauptsächlich auf Facebook aus. Zurzeit diskutieren sie heftig, welche Auswirkungen der Regierungswechsel haben wird. Etwas komplizierter liegen die Dinge bei den Gegnern. Wer eine Ahnung davon haben will, wie fragmentiert und zugleich vernetzt etwa die Stuttgart-21-Gegner inzwischen sind, muss nur einen Blick auf das aktuelle Organigramm werfen, das die Parkschützer online gestellt haben. Es sieht aus wie ein Himmel voller Wölkchen. Die Parkschützer betreiben gleich zwei Seiten im Internet. Außerdem schicken sie Kurznachrichten auf dem Twitter-Kanal Abrissaufstand. Gerade nach den Ereignissen am 30. September hat sich Twitter in Stuttgart zu einem wichtigen Medium entwickelt.

Unterdessen fahren die Macher von "Kontext" zweigleisig. Am 6. April ist das neue Wochenmagazin online gegangen. Ausgewählte Artikel liegen von heute an jeweils samstags der "taz"-Ausgabe West bei. Als ein weiteres Organ der Stuttgart-21-Gegner will der "Kontext"-Chefredakteur und frühere StZ-Chefreporter Josef-Otto Freudenreich das Projekt ausdrücklich nicht verstanden wissen. Die Idee sei bereits im Frühjahr 2010 entstanden, also lange vor Beginn der Abrissarbeiten am Hauptbahnhof und dem schwarzen Donnerstag, sagt Freudenreich. "Wir wollen zur Meinungs- und Pressevielfalt beitragen, das hat das Land dringend nötig", meint er überzeugt. Und zwar unabhängig davon, wer gerade regiere. Grüne, SPD oder die Parkschützer wolle man ebenso kritisch beobachten wie CDU und FDP.

Unter der Adresse www.kontextwochenzeitung.de finden sich Artikel über den "Atomsumpf", die Lage nach der Landtagswahl sowie eine Reportage über Demenz. Aktualisiert wird die Website jeweils mittwochs. Freudenreich und sein Team haben für sich die Langsamkeit im Netz entdeckt und erklären dieses Prinzip zum Programm. "Wir halten uns stur an den Wochenrhythmus", sagt er, "zwischendurch sollen sich dann die Leser austoben."

In Stuttgart gibt es eine starke Gegenöffentlichkeit

In Stuttgart hat sich nach Ansicht des Wissenschaftlers Wimmer vor allem deshalb eine starke Gegenöffentlichkeit entwickelt, weil viele Leute mit dem Kommunikationsstil der Politik unzufrieden waren. Selbst von Seiten der maßgeblich am Projekt Beteiligten wurde mehrfach eingeräumt, das Milliardenprojekt zu wenig in der Öffentlichkeit kommuniziert zu haben.

Darum bloggt auch der Rentner Siegfried Busch seit dem 1. Januar 2009. "Mein Schwiegersohn hat mir gezeigt, wie man das macht und wie ich auf andere Texte verlinke", sagt der 75-jährige Stuttgart-21-Gegner. Bis zur Landtagswahl hat er täglich mindestens einen Text publiziert. Seit dem 27. März schreibt er weniger und will erst einmal abwarten, ob Grün-Rot besser mit den Bürgern ins Gespräch kommt als Schwarz-Gelb.

Das Geld stammt von Privatleuten

Auch die Macher des Blattes "Einundzwanzig" wollen über neue Wege nachdenken. Bisher ist die Zeitung der Stuttgart-21-Gegner monothematisch angelegt. Die beteiligten Journalisten stammen alle aus der Bewegung selbst. "Wir wollen uns künftig thematisch breiter aufstellen", sagt die Chefredakteurin Michaele Heske. "Wenn es funktioniert, machen wir weiter, wenn nicht, hören wir auf." Zwei Tage die Woche arbeitet Heske im Schnitt für das Gratisblatt, ehrenamtlich. Trotz der unentgeltlichen Arbeit der Journalisten kostet ein Printprodukt natürlich mehr Geld als ein Newsletter im Internet. Am 28. April soll die siebte "Einundzwanzig"-Ausgabe erscheinen, die 70.000 Exemplare werden in und um Stuttgart verteilt. Laut Heske werden die 12.000 bis 14.000 Euro pro Ausgabe durch Anzeigen und Spendengelder finanziert. Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, der SÖS-Stadtrat Gangolf Stocker, der Schauspieler Walter Sittler und andere haben in der Vergangenheit Geld gegeben. "Das sortiert sich von Ausgabe zu Ausgabe neu", sagt Heske. Stocker schätzt, dass 2010 eine Million Euro für den Widerstand gegen Stuttgart 21 gespendet wurde.

Das Projekt "Kontext" ist für ein Jahr vorfinanziert. Leben können Freudenreich und seine Mitstreiter trotzdem nicht davon. "Wir haben traumhafte Gehälter auf 'taz'-Niveau", witzelt der 60-Jährige. Jeder verdiene etwa 2500 Euro brutto pro Monat. Nicht ganz so offen redet Freudenreich über Spenden. Wie die 200.000 Euro zusammenkamen, legt er im Einzelnen nicht dar. Der frühere Daimler-Chef Edzard Reuter sagte der "Süddeutschen Zeitung", er sei mit einem "kleinen, vergessenswerten Betrag" dabei. Der Schauspieler Walter Sittler hat, anders als in Medien berichtet wurde, nach eigenen Angaben keinen Euro dafür ausgegeben. "Ich habe nur zugesagt, mich bei Bedarf zu beteiligen", erklärt er. Das Geld stamme von Privatleuten, die sich eine unabhängige Zeitung in Stuttgart wünschten. "Die taz bringt ja auch noch was mit", sagt Freudenreich. Sie seien jedenfalls "geistig und ökonomisch unabhängig". Von dem Begriff Gegenöffentlichkeit hält der Journalist im Übrigen wenig. "Der stammt aus den siebziger, achtziger Jahren. Wir verstehen uns eher als Zusatzangebot und graben möglicherweise ganz andere Themen aus als die etablierten Medien."

Diesen Anspruch hat der 75-jährige Siegfried Busch nicht mehr. Er ist froh, wenn er wieder mehr Zeit für andere Dinge als das Bloggen hat : "Jetzt hoffe ich, dass Stuttgart 21 gestoppt wird und die Website irgendwann Geschichte sein wird."

Was sich im Netz so tummelt

Stuttgart-21-Gegner: Die Parkschützer betreiben zwei Seiten im Netz: www.parkschuetzer.org und www.bei-abriss-aufstand.de. Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 ist für www.kopfbahnhof-21.de verantwortlich. Daneben gibt es viele weitere kleinere Projekte der Projektgegner. Der Informatiker Tilo Emmert hat die Video-Plattform wwww.cams21.de gegründet. Sein Motto: „Cam dir deine Meinung“. Der 75-jährige Siegfried Busch hat ebenfalls eine eigene Website: www.siegfried-busch.de

 Stuttgart-21-Befürworter: Die offizielle Webseite heißt nach wie vor www.das-neue-herz-europas.de. Rudolf Weeber und andere betreiben www.stuttgart21-ja-bitte.de. Besonders aktiv sind die Befürworter auf Facebook. Mehr als 145.000 Usern gefällt „Für Stuttgart 21“.