Calixto Bieito hat für die Münchner Opernfestspiele die selten gespielte Oper „La Juive“ von Fromental Halévy inszeniert. Er präsentiert eine szenisch und musikalisch schlüssige Version und arbeitet die zeitlose Aktualität des Werks heraus.

München - Am Anfang ist es finster auf der Bühne des Münchner Nationaltheaters. Kein Laut ist zu hören. Dann beginnt ganz hinten ein schwaches Licht zu glimmen. Ein Frauengestalt schält sich aus der Dunkelheit, kommt langsam nach vorn. Sie ist jung, hat ein grünes Kleidchen an und schaut verzweifelt ins Publikum. Plötzlich platzt röhrender Orgelklang wie eine explodierende Bombe in die Stille. Die Frau zuckt verängstigt zusammen und hält sich die Ohren zu. Martialisch ertönt eine „Te Deum“-Aufnahme mit Frank Höndgen (Orgel) und dem Chor der Bayerischen Staatsoper aus dem Off.

 

So beginnt die Neuproduktion von Fromental Halévys Fünfakter „La Juive“ an der Bayerischen Staatsoper. Die Premiere fand jetzt im Rahmen Münchner Opernfestspiele statt. In Absprache mit dem Dirigenten Bertrand de Billy hat der katalanische Regisseur Calixto Bieito die schmissige Ouvertüre von Halévys „Jüdin“ einfach gestrichen. Auch weitere Nummern des Meisterwerks sind bei dieser Interpretation dem Rotstift zum Opfer gefallen. Mit nur einer Pause nach dem zweiten Akt wird das dezimierte Stück zügig durchgespielt.

De Billy und Bieito billigen dem Genre der französischen Grand Opéra mit ihren Massenszenen und Balletteinlagen keinen geschlossenen Werkcharakter zu. Ähnlich wie bei einem Musical handle es sich hier eher um eine Art „Work in progress“, das den Gegebenheiten vor Ort anzupassen sei. Man kann darüber streiten, wie weit derlei Eingriffe gehen dürfen. Insgesamt jedoch wird in München eine szenisch wie musikalisch schlüssige Version geboten, die mit der erwähnten Pause immer noch etwas mehr als dreieinhalb Stunden dauert.

Seit zwanzig Jahren erlebt „La Juive“ ein Comeback

Halévy „Jüdin“ wurde 1835 in Paris uraufgeführt. Fast hundert Jahre lang gehörte sie zu den meistgespielten Musikdramen in Europa und Amerika. Erst im Zuge antisemitischer Spielplanbereinigung der Nazis verschwand sie nach 1930 von den Bühnen. Seit zwanzig Jahren erlebt das einstige Erfolgsstück allerdings ein bemerkenswertes Comeback. Unter anderem wurde es nach Aufführungen in Wien, Paris und Zürich auch in Stuttgart und neulich in Mannheim wiederbelebt. Das Libretto von Eugène Scribe entfaltet vor historischem Hintergrund einen geradezu teuflich vertrackten Plot.

„La Juive“ spielt 1414 zur Zeit des Konstanzer Konzils. Die Vorgeschichte erinnert an Lessings „Nathan“. Der jüdische Goldschmied Éléazar hat in Rom, wo seine Söhne von Christen hingerichtet wurden, die neugeborene Tochter des Magistrats Brogni aus dessen brennendem Haus gerettet und als eigene Tochter Rachel im jüdischen Glauben aufgezogen. Brogni, der davon nichts weiß, ist inzwischen zum Kardinal aufgestiegen. In Konstanz, wo mittlerweile auch Éléazar lebt, soll er das Konzil eröffnen, nachdem Reichsfürst Léopold die Hussiten besiegt hat.

Léopold ist mit Prinzessin Eudoxie verheiratet, liebt aber heimlich die schöne Rachel. Als sie und ihr Vater vom christlichen Mob bedroht werden, rettet er sie inkognito. Später kommt er als vorgeblicher jüdischer Maler zum Pessach-Fest in Éléazars Haus, gesteht der schockierten Rachel, dass er Christ ist, und überredet sie zur Flucht. Éléazar ertappt beide und tobt, lässt sich aber von Rachel beschwichtigen, den Geliebten als Schwiegersohn anzunehmen. Doch der kneift und macht sich aus dem Staub.

Bieito ist nicht mehr der Skandalregisseur von einst

Rachel heuert als Dienerin bei Eudoxie an, um hinter Léopolds Geheimnis zu kommen. Zur Siegesfeier für den Reichsfürsten lässt sie die Bombe platzen. Brognis Bannfluch trifft die verliebten Frevler. Auf Eudoxies Flehen widerruft jedoch Rachel ihre Aussage, um wenigstens Léopold zu retten. Éléazar, der ebenfalls zum Tod verurteilt wurde, lehnt Brognis Angebot einer Konversion empört ab und eröffnet er ihm, dass seine Tochter noch lebt. Aber erst im Augenblick ihres freiwilligen Märtyrertods offenbart er dem Kardinal ihre wahre Identität.

Bieito hat die zeitlose Aktualität von Halévys Opernthriller herausgearbeitet. Auf fast leerer Bühne (Rebecca Ringst) dominiert eine monumentale graue Rückwand. Dicht nebeneinander stehen zehn haushohe Stelen aus Stahlbeton und bilden eine meterdicke Mauer. Mit ihren Löchern am oberen Rand verweist sie unübersehbar auf Israels Sperranlage zum Westjordanland. Zahl und Optik der Stelen lassen zudem an die zehn mosaischen Gebotstafeln denken, die Juden wie Christen als ehernes Gesetz dienen.

Eine mächtige Wand zwischen den Konfessionen

Wie eine verbindende und gleichzeitig trennende Klagemauer steht diese mächtige, seitlich drehbare Wand im weiteren Verlauf des Abends stets zwischen den verfeindeten Konfessionen. An ihr betet man zum selben Gott und verflucht Andersgläubige als gottlose Böse. Bieito zeigt fundamentalistischen Fanatismus anfangs etwas plakativ. Religiöser Staatsterror wird mit Aufmärschen schwarz gekleideter Volksmassen vorgeführt (Kostüme: Ingo Krügler).

Ein Taufritual mit Kindern in Unterwäsche erinnert an Waterboarding und signalisiert, dass die religiöse Organisation von Gesellschaften auch Gewalt nach innen fordert. Wie jüdische Bürger zur Nazizeit muss Rachel dann auf Knien den Boden für die christlichen Herrenmenschen scheuern. Videos (Sarah Derendinger) zeigen demütigendes Befingern eines Frauengesichts in Großaufnahme oder ein vom Schlachtmesser bedrohtes Opferlamm. Am Ende wird ein Metallkäfig mit Benzin übergossen. Sadistische Hinrichtungsmethoden des IS lassen grüßen. Doch Theaterblut kommt kaum zum Einsatz.

Bieito ist nicht mehr der Skandalregisseur von einst. Seine Personenführung ist mittlerweile meist subtil auf die Musik abgestimmt. So gelingen eindrucksvolle Momente. Roberto Alagna meistert die anstrengende Tenorpartie des Éléazar beachtlich, forciert aber zu oft. John Osborn (Léopold) singt geschmeidig, lässt manchmal jedoch intonatorische Deutlichkeit vermissen. Ain Anger (Brogni) bewährt sich mit sattem Bass. Bis auf einige verwischten Koloraturen zeigen sich Vera-Lotte Böcker (Eudoxie) und vor allem die berührend spielende Aleksandra Kurzak (Rachel) in vokaler Bestform. De Billy dirigierte die live im Internet übertragene Premierenvorstellung mit Umsicht.

Vorstellungen 30. Juni, 4., 8., 22., 26. und 30. Juli; Wiederaufnahme im Oktober