Krankenhäuser versuchen mit einer Art Risikomanagement, medizinische Fehler zu vermeiden. Ein neues Meldesystem soll dabei helfen.

Stuttgart - Beinahefehler gehören öffentlich ausgewertet und nicht abgetan. Leider wird in Deutschland immer noch das Nullfehlermanagement favorisiert, bei dem der Schuldige öffentlich abgestraft wird", schreibt Schwester Elisabeth auf einer Internetplattform für Pflegekräfte. Sie berichtet, wie sie eine vermeintlich harmlose Flasche aus dem Schrank gegriffen und in den Dosierbecher gefüllt habe. Doch das, was sie da sicher in den Händen zu haben glaubte, war kein harmloses Mittel, sondern ein nicht weit davon stehendes aggressives Desinfektionsmittel. Eine Kollegin machte sie glücklicherweise darauf aufmerksam.

 

Nicht nur am Klinikum Stuttgart, sondern auch an anderen Krankenhäusern der Region gehören genau festgelegte klinische Pfade und OP-Checklisten zum Alltag. Dass Patienten vor den Eingriffen eindeutig identifiziert werden und zu operierende Gliedmaßen ebenso eindeutig markiert werden müssen, ist im weitgehend standardisierten Klinikbetrieb unumgänglich. Heute ähneln große OP-Betriebe hochtechnisierten Verschiebebahnhöfen, in denen Patienten darauf hoffen müssen, dass der Betrieb reibungslos läuft. Und dennoch können Fehler passieren.

Meldesystem soll keine Schuldigen identifizieren

"Kritische Situationen rechtzeitig erkennen und mögliche Fehlerquellen bereits im Vorfeld beseitigen" soll ein neues System, das aus dem Pilotenalltag übernommen worden ist und sich Critical Incident Reporting System (CIRS) nennt. In einem internen Internetportal sollen kritische Zwischenfälle gemeldet werden. Es sind, so ist die Erfahrung aus Großtechniken, oft nicht die großen, sondern viele kleine Einzelfehler, die sich in der Summe verheerend auswirken können. Das neue Meldesystem ist für Mitarbeiter gedacht, bleibt anonym und kann von Patienten nicht eingesehen werden. Es soll ausdrücklich keine Schuldigen identifizieren.

Für eine "Nullfehlerkultur" wirbt in diesem Zusammenhang der ärztliche Direktor am Stuttgarter Klinikum, Claude Krier. Erfahrene Kliniker wissen, dass dies ein wünschbares, aber angesichts der Unwägbarkeiten und komplizierten Abläufe an einem Großkrankenhaus nur bedingt realistisches Ziel ist. Allein das Dauerthema Hygiene und Krankenhauskeime ist ein Hinweis dafür, wie schwer einem auf den ersten Blick leicht beherrschbaren Risiko im Alltag beizukommen ist, in dem der tägliche Arbeitsdruck einfache Maßnahmen wie Händewaschen, Desinfizieren und Handschuhwechseln erschwert.

Fehler durch Übermüdung

Eine annähernde "Nullfehlerkultur" aber ist nicht nur von gutem Willen, sondern auch von Personalschlüsseln und Qualifikationen abhängig. Dass Zeitdruck und Müdigkeit ein erhöhtes Risiko in sich bergen, ist in einer zahlenmäßig umfangreichen Befragung von Schwestern und Pflegern deutlich geworden. Das Fazit einer älteren Befragung aus dem Jahre 2005 von 4400 Krankenschwestern in Japan: ein Viertel räumte Fehler bei der Medikamentenvergabe oder der Bedienung von Maschinen durch Übermüdung ein. Eine Untersuchung bei 2200 jungen Ärzten im Jahr 2007 in Neuseeland brachte ähnliche Ergebnisse. Vergleichbare neuere Untersuchungen gebe es, so hieß es kürzlich auf einer Tagung, für Deutschland nicht.

Fragt man eine erfahrene Pflegekraft und Ausbilderin, so hat sich die Wahrnehmungsbereitschaft für Fehler deutlich verbessert. Waltraud Küntzle, lange Zeit am Institut für Fort- und Weiterbildung in Ludwigsburg, hat sich als Präsidentin der europäischen Vereinigung für nephrologische Pflegekräfte für die Einführung einheitlicher Standards in der Hygiene eingesetzt. Und sie hat über die Jahre Fortschritte gesehen. Gerade in ihrem Erfahrungsbereich, der Dauerbehandlung von chronisch Nierenkranken, ist die Beachtung der Hygiene besonders wichtig. An der Schnittstelle zwischen Blutschläuchen und Punktionsstellen bei der Dialyse ist das Risiko von Infektionen besonders hoch. Das bedeutet erhöhte Wachsamkeit für Pflegekräfte und Patienten.

Fehler sind nur schwer einem speziellen Arzt zuzuordnen

Oft bekommen Patienten in großen Krankenhäusern ihren Chirurgen nur kurz zu sehen. Und ebenso oft übernehmen Assistenzärzte die Aufgabe der Aufklärung und Erklärung. Privatpatienten sind die Ausnahme, da sie einen Anspruch auf Behandlung durch Chef- oder Oberärzte haben. In einem auf Hochdruck arbeitenden Operationsbetrieb mit wechselnden Ärzten kommt dem Vorgespräch besondere Bedeutung zu, zumal dann, wenn es Patienten mit Vorerkrankungen sind. Aber wer garantiert dafür, dass diese Informationen auf dem Weg zwischen Station und Operationssaal nicht abhandenkommen? In einem weitgehend standardisierten Operationsablauf können sich Fehler einschleichen, die nur schwer einem speziellen Arzt zuzuordnen sind. Mit der seit einigen Jahren erprobten Methode der Checklisten und Nachkontrollen können zwar vorhersehbare Risiken deutlich verringert werden, aber nicht jene, die bereits im Vorfeld liegen. Immerhin gebe es aber auf Abteilungsebene, so berichtet ein Klinikumschirurg, inzwischen "regelmäßige Fehlerdiskussionen".

Schlagzeilen wie "Heftklammer im Bauch vergessen" suggerieren, grobe Nachlässigkeiten seien nicht ungewöhnlich. Doch ein erfahrener Krankenhausarzt wie der Stuttgarter Chirurg Michael Martin versucht das Bedrohungsbild aufzulösen. So berichtet der langjährige leitende Oberarzt am Stuttgarter Katharinenhospital, dass von den Pflegekräften jedes Instrument und jeder Tupfer penibel vor und nach der Operation gezählt und darüber Protokoll geführt werde. Martin sieht weniger im Personalschlüssel als in der Häufigkeit des Personalwechsels auf fast allen Ebenen ein Potenzial für Missverständnisse. Wie soll sich Vertrauen und Wissen bilden, wenn das Personal ständig wechselt?

Beinahefehler ist kein Kunstfehler

Kunstfehler: Machen Ärzte bei der Behandlung oder im OP Fehler, die bei Beachtung handwerklicher Regeln nicht hätten passieren dürfen, so spricht man von Kunstfehlern. Beinahefehler dagegen sind Fehler, die fast passiert wären, aber durch Kontrolle oder glückliche Umstände noch haben vermieden können.

Risikomanagement: Modernes Risikomanagement besteht aus klinischen Pfaden (Ablaufpläne für medizinische Behandlungen), OP-Checklisten und neuerdings aus anonymen Berichtssystemen für kritische Ereignisse. Erste Erfahrungen werden damit zum Beispiel am Klinikum Tübingen und am Klinikum Stuttgart gesammelt.

Wandel: Früher, so berichten lang gediente Mediziner, sei es für Chefärzte nahezu unvorstellbar gewesen, einen Fehler offen zu benennen und einem betroffenen Patienten Hilfe anzubieten. Das habe sich geändert. Der Weg zur Schiedsstelle oder zum Richter ist nicht mehr tabu, aber immer noch schwierig.