Dass die Ereignisse dabei insgesamt weniger psychologisch motiviert sind, sondern das Geschehen sich eher schicksalhaft entwickelt, unterstützen Wieler und Morabito durch eine akribische Personenführung: Colin (mit leicht geführtem, lyrischem Tenor: Ed Lyon) ist ein naiver Bohemien, der lange nicht so recht versteht, was da mit ihm geschieht. Ebenso wenig wie Chick (Daniel Kluge): ein bebrillter Nerd im Partre-Fieber. Die schrillste Figur ist Nicolas, der Koch (Arnaud Richard): ein Kabinettstückchen des kernigen Bassbaritons ist sein gesungenes Aalpastetenrezept im Zwölftonsound. Die auch szenisch sehr präsente Sophie Marilley überzeugt als Alise, und Rebecca von Lipinski verleiht der moribunden Chloé das rechte Maß an Sopranwärme – sie ist die einzige Figur, der auch ein gewisses Maß an Emphatie zuteilwird.

 

Auch der Chor ist glänzend eingebunden, ja, die Musik ingesamt ist nachgerade überwältigend. Denisov, Polystilistiker wie sein Landsmann Schnittke, hat hier eine Partitur geschaffen, die man als stilübergreifende Weltmusik bezeichnen kann und die auch Opernbesucher faszinieren dürfte, die sich sonst nicht zu den Liebhabern zeitgenössischer Musik zählen. Das liegt nicht nur an den Jazz- und Revuemusikelementen, die immer wieder wie aus einer Traumwelt hereinwehen. In der Partitur kommt zwar auch Zwölftönigkeit vor, allerdings eher als karikierende Stilübung, vor allem aber dominiert das fast Debussy’sche Parfüm, die französische Leichtigkeit des durch Celesta, Vibrafon und Schlagwerk angereicherten Orchesters.

Sylvain Cambreling reizt in seiner ersten Produktion als neuer Stuttgarter GMD mit dem glänzenden Staatsorchester das Ausdrucksspektrum der Musik präzise aus: mit dezenten, Rezitativassoziationen weckenden Cembalofloskeln und markerschütternd hineinfahrenden Akkorden und Clustern, die den lyrisch-filigranen Grundton immer wieder unterbrechen. Nein, vergleichbar Beeindruckendes hat man lange nicht gehört und gesehen, auch in Stuttgart nicht. Das Premierenpublikum wollte die Mitwirkenden gar nicht mehr von der Bühne lassen.