Lange hat Stuttgart nach einer Interimsspielstätte für Oper und Ballett gesucht. Endlich zeichnet sich eine Lösung ab: das frühere Paketpostamt an der Ehmannstraße. Doch nun muss es an die richtig wichtigen Punkte gehen.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Longue durée – die „lange Dauer“ ist ein schon etwas in die Jahre gekommener Fachbegriff aus der französischen Geschichtswissenschaft. Historiker beschreiben damit die Strukturen und Einflüsse, welche die Entwicklung der Menschen nachhaltig prägen, zum Beispiel Klimaveränderungen oder Kontinentalverschiebungen. Man könnte fast meinen, die Geschichtsschreiber hätten dabei auch schon das Thema Opernsanierung in Stuttgart vor Augen gehabt: Es ist schon von sehr langer Dauer, wie die Verantwortlichen dieses Problem hin und her wälzen – und so mancher hat längst aus dem Blick verloren, dass dieses Problem doch eigentlich eine kulturpolitische und städtebauliche Aufgabe von allergrößtem Reiz darstellt.

 

Kleiner Rückblick gefällig? Seit 1999 ist die nötige Sanierung des Opernhauses aktenkundig. Vor viereinhalb Jahren machte ein Gutachten erstmals auf den frappierend großen Verbesserungsbedarf aufmerksam und erschreckte mit einem Kostenaufwand von mutmaßlich 300 Millionen Euro, die sich Stadt und Land teilen müssten. Seitdem wird geprüft und erwogen, die Summe hat wohl die 400 Millionen Euro-Marke gerissen. Und mehr als ein Jahr Beratungs- und Debattenzeit hat man investiert – nein, nicht etwa, um über das zukünftige Opernhaus und seine Wirkung auf die Stadt nachzudenken. Sondern über den Standort jener Interimsspielstätte, wo Musiktheater und Ballett in der Bauzeit für fünf Jahre Unterschlupf finden können.

Alle sind sich, oh Wunder, einig - fast alle...

Im November vergangenen Jahres hat Oberbürgermeister Fritz Kuhn drei mögliche Orte für Ersatzspielstätten genannt. Seitdem haben große Teile der interessierten Öffentlichkeit die Alternativen mit einer Verve diskutiert, als gehe es schon um die Staatsoper der Zukunft selbst. Aber wie das so ist bei derartigen Debatten: Auch, wenn viele glauben, es sei doch nichts weniger als die reine, unbezweifelbare Vernunft, die für die (eigene) Idee spreche, letztendlich muss man die Fakten prüfen, die Argumente sammeln, Für und Wider abwägen. Und, oh Wunder, zum Schluss sind sich die zuvor gern einmal tief zerstrittenen Ministerien, Intendanten, der OB und eine breite Mehrheit im Gemeinderat erfreulich einig: Das Paketpostamt in der Ehmannstraße eignet sich für den Übergang als Musentempel! Die Champions-League-Kultur der Staatstheater könnte aus dem tristen Schwarz-Braun der 70er-Jahre-Nutzarchitektur eine „Oper im Park“ im Shabby Chic einer coolen Metropole machen. Klingt so verrückt, dass es wohl realistisch ist.

Jetzt kann die Sanierung der Oper beschlossen werden

Versuche der CDU im Gemeinderat, die Entscheidung über das Interim nun doch noch um mindestens ein weiteres halbes Jahr zu verzögern, haben alle übrigen Beteiligten mit einem erstaunlich beherzten Schritt nach vorn beantwortet: Nein, bitte kein neues Vertagen, lasst uns wenigstens diese Frage endlich abhaken! Schließlich gilt es, weitaus bedeutendere, weil weitreichendere Fragen zu klären: Nur mit einer Entscheidung für die Ehmannstraße kann das an diesem Punkt federführende Finanzministerium einen Ablauf für die Sanierung des Opernhauses planen, können Stadt und Lande Ende März 2018 die Sanierung offiziell beschließen. Erst dann kann ein Wettbewerb ausgelobt werden, erst dann können Architekten und Bürger über konkrete Ideen diskutieren. Erst dann geht es so richtig los! Darum nun bitte: voran.

Keine Frage, es wird auch in Zukunft viele Fragen zu wälzen geben. Aber wann setzt sich in dieser Stadt endlich die Stimmung durch, dass allem Baustellen-Nerv zum Trotz Stuttgart gerade jetzt die Chance hat, einen Entwicklungsschub zu machen und mit modernen Städtebau- und Verkehrskonzepten, aber eben auch mittels der Kultur den mancherorts so hartnäckigen Kesselmuff endgültig zu vertreiben? Von langer Dauer sind die Folgen jener Projekte, die jetzt möglich scheinen. Das Interim ist wichtig. Noch wichtiger ist das Ziel.