Das Gutachten zur Opernsanierung lässt viele Fragen offen. Noch bleibt vage, wofür genau die Stadt und das Land insgesamt 300 Millionen Euro ausgeben sollen. Da wird es Zeit, über Grundsätzliches nachzudenken, meinen StZ-Lokalchef Holger Gayer und StZ-Kulturchef Tim Schleider.

Stuttgart - Manchmal lohnt es sich, dem Impuls des schnellen Zwischenrufs zu widerstehen. Obwohl die Zahl ja schon unglaublich ist: 300 Millionen Euro soll die Sanierung der Stuttgarter Oper nun kosten, weil die Technik im Inneren museumsreif ist und die Musiker, Schauspieler und Tänzer des Dreispartenhauses viel mehr Platz brauchen. Sind die noch bei Trost, fragt sich da der kommunalpolitisch denkende Leiter der StZ-Lokalredaktion und erwägt, einen spontanen, kurzen und verletztenden Kommentar zu schreiben. Und es gäbe ja auch viele gute Gründe, dies zu tun. Allein die Fragen, wie viele Schlaglöcher mit soviel Geld gefüllt, wie viel soziale Kälte gelindert, wie viele Kitaplätze geschaffen werden könnten, liegen auf der Hand. Doch wie kurz wäre so eine Einlassung gesprungen? Wie sehr würde sie eine Neid- und Verteilungsdebatte befördern, in der nicht nur Äpfel mit Birnen verglichen, sondern selbige auch noch gegeneinander ausgespielt werden? Und wie sehr würde sich der Kollege Schleider darüber ärgern, der als Kulturchef der StZ womöglich eine ganz andere Meinung vertritt?

 

Tim Schleider Wieso „andere Meinung“? Ganz im Gegenteil: der Kulturchef findet auch, dass unsere Kinder gut betreut, unser Nahverkehr fließend und unsere Wohngebiete attraktiv sein müssen – und ärgert sich genauso wie alle anderen über jeden Euro, der irgendwo in Stuttgart von wem auch immer sinnlos vergraben wird. Eine Stadt muss in ihre Zukunft investieren, in Bildung, Verkehr, Wohnqualität, Infrastruktur. Aber zur Zukunft gehört eben auch die Kultur. Und waren es in den vergangenen zehn, 15 Jahren nicht gerade die Investitionen in die Kultur, die Stuttgart vorangebracht haben? Literaturhaus, Kunstmuseum, Theaterhaus auf dem Pragsattel, Theater im Tagblattturm, Stadtbibliothek: erleben wir nicht jeden Tag, wie all das zum Leben, zur Qualität, zur Ausstrahlung unserer Stadt beiträgt?

Holger Gayer Ohne Zweifel. Stuttgart ist eine Kulturstadt – und soll das auch bleiben. Um nun eine sachliche Debatte zu führen, wie wir das eben versuchen, sollten aber alle Beteiligten ihre Drohkulissen im Speicher lassen. Dies gilt auch für den Geschäftsführenden Intendanten Marc-Oliver Hendriks. Dessen Hinweis, dass jetzt handeln müsse, wer auch „in 25 Jahren noch Oper und Ballett in Spitzenqualität erleben“ will, ist genauso kontraproduktiv wie das hinter vorgehaltenen Händen zu vernehmende Grummeln mancher Politiker, die Oper und Ballett für verzichtbare Kinkerlitzchen halten. Was wir brauchen, ist eine Debatte über die Kultur, die wir in der Stadt haben wollen – und die Notwendigkeiten, die sich daraus ergeben. Ein Weltklasseensemble kann nicht in der Besenkammer üben. Aber aus der Sanierung einer Oper kann auch nicht mir nichts dir nichts ein neues Riesenprojekt werden, das womöglich noch den Status eines Leuchtturms angeklebt bekommt. Davon haben wir genug in der Stadt – eines davon ist ganz nah an der Oper und wird von 5. August an gegraben.

Schleider Ich glaube, Hendriks wollte mit seinem Satz darauf hinweisen, dass man Kultur langfristig pflegen muss. Wer ab und zu auch anderswo ins Theater geht, der weiß: was Oper, Ballett und Schauspiel hier bieten, das ist Champions League. Seit 15 Jahren wissen Stadt und Land, dass das Opernhaus saniert werden muss – da sind auch zehn weitere Jahre schnell verstrichen, ohne, dass etwas geschieht. Aber ich stelle trotzdem wieder einen Konsens fest: völlig d’accord, eine Stadtkultur ist nur interessant, wenn sie die ganze Vielfalt der Möglichkeiten bietet, von der internationalen Spitzenkultur bis hin zur Off-Szene. Übrigens zeigt die Erfolgsgeschichte Gauthier Dance sehr gut, wie beide Seiten voneinander profitieren. Ohne das über Jahrzehnte gewachsene hochkompetente Ballettpublikum in Stuttgart hätte sich nie im Theaterhaus auf dem Pragsattel ein eigenes Tanzensemble etablieren können. Sehen wir doch die Operndebatte nicht nur als Kostenfrage – sondern auch unter dem Aspekt der Stadtentwicklung. Welche Chancen bieten die Pläne für die Entwicklung an einem Ort, den die Stadtwerbung schon seit Jahr und Tag als „Kulturmeile“ verkauft?

Gayer Gerne. Wobei ich schneller wüsste, was ich nicht mehr will, als was dazu kommen soll. Und wahrscheinlich würden wir uns auch rasch darauf einigen, dass das Kulissengebäude an der B 14 an Hässlichkeit kaum zu übertreffen ist. Unter anderem darin liegt aber auch meine Sorge: Das Große Haus ist eigentlich ein Solitär, an den man im Laufe der Jahre alle möglichen Anbauten geklebt hat. In einer Stadt, die ohnehin Mühe mit dem Denkmalschutz hat, sollten wir aber unbedingt darauf achten, dass dieser bei den wenigen prägnanten Gebäuden, die uns geblieben sind, eingehalten wird. Deswegen glaube ich, dass wir unbedingt in aller Breite und Sorgfalt darüber reden müssen, was wir wollen – und nicht nur rasch den Wunschzettel Einzelner erfüllen.

Schleider Ich habe den Eindruck, Herr Kollege, wir stecken mitten im besten Gespräch über unsere Stadt. Wie schön, dass wir uns nicht gleich in ein Pro und Kontra verbissen haben . . . Hoffen wir, dass es in der Stadt selbst auch so gelingt.

Die beiden Autoren

Tim Schleider Geboren 1961 in Bremen, seit 2000 in Stuttgart und bei der StZ. Er wird nicht müde, die überragende Qualität und Vielfalt des Stuttgarter Kulturlebens im überregionalen Vergleich zu rühmen – gerade auch gegenüber alten Freunden aus Berlin oder Hamburg. An der Elbe war Schleider übrigens 1993/94 Pressesprecher der damaligen Kultursenatorin. Und aus dieser Zeit kennt er die Anforderungen und Zwänge einer Politik, die mit den Steuermitteln sorgsam zu haushalten hat. Und das war alles lang vor der Elbphilharmonie.

Holger Gayer Jahrgang 1969, geboren in Bietigheim, ist seit 1993 bei der Stuttgarter Zeitung. In journalistischer Hinsicht hat er sich in der Zeit vor allem mit Sport und Politik beschäftigt. Privat hat er längst auch ein Faible für (fast) alle kulturellen Angelegenheiten. Inzwischen beginnt er, sogar Tanz zu mögen – so lange er es nicht selbst tun muss. Dabei freut er sich immer, wenn ihn die Kunst nicht nur im Kopf berührt, sondern auch im Bauch. Vielleicht mag er deswegen oft jene Kultur, die Avantgardisten meiden, weil sie im Mainstream daheim ist.