Zum Volksrichter im Kurzlehrgang


Die wenigsten der Urteile, sagt Wolfgang Völzke, hätten in einem Rechtsstaat der Überprüfung stand gehalten. Tatsächlich sind die Waldheimprozesse 1954 vom Westberliner Kammergericht zum ersten Mal als rechtlich nichtig bewertet worden. Unter den Verurteilten waren auch Jugendliche. Einer der Gefangenen, ein S-Bahn-Führer, wurde laut Völzke als vermeintlicher "SS-Bannführer" verurteilt. Die meisten Angeklagten waren kleine Leute und Intellektuelle, die der sowjetischen Besatzungsmacht kritisch gegenüber standen und dann unter dem Vorwand, sie seien Naziverbrecher, ins Gefängnis gesteckt wurden.

Manche der in Kurzlehrgängen ausgebildeten DDR-Volksrichter bekamen Skrupel. Belegt ist der Fall des Richters Dittberner, der einen Häftling verurteilen sollte, weil dieser im Dritten Reich Rundfunksprecher war. Er weigerte sich mit der Begründung, der Vorgesetzte dieses Mannes sei schon wieder Intendant des Weimarer Rundfunks. Der Richter landete darauf selbst hinter Gittern. Es handle sich bei den Waldheimprozessen um eines der am besten belegten Verbrechen der DDR, urteilte der Historiker Falco Werkentin später. Völzke hat nach der Wiedervereinigung sofort die juristische Aufhebung seines Waldheim-Urteils verlangt. Er bekam Recht: Am 2. Dezember 1992 wurde er offiziell rehabilitiert.

Gedichte schreiben, wenn der Schlaf in weiter Ferne ist


An jenem Februartag seiner Entlassung vertreibt das Rattern des Zuges schließlich das Gefühl des Schlafwandelns. Im Abteil wacht Wolfgang Völzke auf. Er tastet nach seiner Tasche, streicht über das selbst gefertigte Poesiealbum darin, beißt in ein Brot, das er mitbekommen hat, aber er kann nichts essen. Er muss wieder an jene denken, die in Waldheim zurück geblieben sind. Viele für immer.

In Ostberlin nimmt er die S-Bahn, die in den Westteil der Stadt fährt. Dort nehmen ihn die früheren Mithäftlinge in Empfang, die längst frei sind und für den Berliner Senat und das Berliner Büro der Bonner Parteien arbeiten. Es folgen sechs Wochen fiebriger Arbeit, in denen aus dem Zuchthäusler Völzke wieder ein freier Mensch wird. Nachts, wenn er nicht schlafen kann, schreibt er die Gedichte nieder, die er sich bis dahin nur mit Hilfe von Kürzeln auf einem durchgewetzten Stück Papier gemerkt hat. Es passte in ein Brillenetui. Die Gedichte haben ihn überleben lassen. Jetzt braucht er sie nicht mehr.

Tagsüber trifft er Angehörige von Mithäftlingen. Vor allem aber berichtet er den Aktivisten der "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit", die 1948 von dem in Stuttgart geborenen Historiker Rainer Hildebrandt und dem späteren Bundesinnenminister und Verfassungsrichter Ernst Benda mitbegründet worden ist. Die von der CIA unterstützte Aktivistengruppe wird von der Stasi gehasst wie keine andere im Westen.