Zwei Männer und eine Frau wurden von den Wasserwerfern im Schlossgarten schwer getroffen. Ein Besuch bei den Opfern des Polizeieinsatzes.

Stuttgart - Im Supermarkt hat Dietrich Wagner Probleme, einen Berg Orangen von einem Berg Bananen zu unterscheiden. Am der Kasse hält er sein Portemonnaie hin und bittet die Verkäuferinnen, sich das passende Geld herauszunehmen. Bei Daniel Kartmann ist es der Fußball, der ihm seine Grenzen aufzeigt. Seit dem 30. September 2010 trifft er das Tor nicht mehr und übersieht seine Mitspieler. Und bei Ursula Sierer (Name geändert) sind es die wiederkehrenden Lichtblitze am linken Augenrand, die ihr Angst machen. Dietrich Wagner, Daniel Kartmann und Ursula Sierer haben durch den Wasserwerfereinsatz im Schlossgarten bleibende Augenschäden erlitten. Alle drei haben Anzeige erstattet, alle drei versuchen, wieder in ihren Alltag zurückzufinden. Und alle drei haben seit dem 30. September ein anderes Bild von dem Staat, in dem sie leben.

 

Am weitesten weg von seinem früheren Leben ist der 67 Jahre alte Dietrich Wagner. Der Rentner, der sich mit ausgestreckten Armen in den Strahl des Wasserwerfers gestellt hat, ist in den vergangenen Monaten zu einer Ikone des Widerstandes geworden. Das Foto, das ihn hilflos und mit blutenden Augen zeigt, ist für viele zum Sinnbild dieses Tages geworden.

Lesen kann er nicht mehr

Jetzt sitzt Wagner in einem Hinterhof im Stuttgarter Westen, neben ihm sein Freiburger Anwalt Frank-Ulrich Mann, und sagt Dinge, die für eine Ikone so gar nicht taugen. Während seine Lebensgefährtin Erika Kaffee und frischen Käsekuchen aufträgt, entwickelt Wagner seine Demokratietheorien. Bei Wahlen könne er sich vorstellen, dass Stimmen je nach Bildungsabschluss des Wählers gewichtet werden. Später sagt er, dass er Deutschland noch immer für ein von den USA besetztes Land hält und dass die Amerikaner irgendwie womöglich auch hinter dem Polizeieinsatz am 30. September gestanden haben könnten. Nicht nur Mappus und Angela Merkel, sondern vielleicht auch das US-Militär. Sein Anwalt interveniert freundlich.

Dietrich Wagner hat bei dem Polizeieinsatz fast sein ganzes Sehvermögen verloren. Egon Georg Weidle, der Chefarzt der Augenklinik im Katharinenhospital, listet die Verletzungen auf: Riss der Netzhäute links und rechts, Riss der Bindehäute, geschädigte Linsen, verletzte Sehnerven. Auf dem rechten Auge bleibt Wagner eine Sehfähigkeit von zehn Prozent, auf dem linken sind es weniger. "Ich kann ein Autokennzeichen vielleicht noch aus einem Meter Entfernung erkennen", sagt Wagner. Lesen kann er nicht mehr, Autofahren schon gar nicht, Farben sieht er wie durch einen Nebel. "Ab der Dämmerung geht nichts mehr ohne meine Erika." Keiner der Verantwortlichen hat sich bei ihm entschuldigt.

Das Verfahren wurde eingestellt

Was der 67-Jährige bekommen hat, war eine Anzeige wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung, weil er einen Stein auf ein Einsatzfahrzeug geworfen haben soll. Mitte April wurde das Verfahren eingestellt, weil kein Schaden nachgewiesen werden konnte und weil Dietrich Wagner durch seine Erblindung ohnehin bereits hart getroffen ist. Der Rentner spricht von "korrupter Polizei und korrumpierten Staatsanwälten" und sieht den Polizeieinsatz als "vorsätzliche Schlacht des Staatsapparates gegen seine Bürger".

Der Stuttgarter Polizeisprecher Olef Petersen, der schon dutzendfach mit diesen Vorwürfen konfrontiert wurde, erwidert unermüdlich: "Die Polizei hat die Demonstranten vor dem Wasserwerfereinsatz fast eine Stunde lang dazu aufgefordert, den Platz freizumachen." Er sagt auch, dass die Polizei noch immer das Gewaltmonopol im Staat innehat. Und er drückt mehrfach sein Bedauern über die Verletzten aus.

Hoffen auf außergerichtliche Einigung

Dietrich Wagner hat Strafanzeige erstattet, gegen die Einsatzleitung und den beteiligten Polizisten im Wasserwerfer, den sein Anwalt noch immer zu ermitteln versucht. "Wir wissen inzwischen, welches Fahrzeug es war, aber nicht wer gezielt hat", sagt Frank-Ulrich Mann, der von den Parkschützern vermittelt wurde, weil er Erfahrung hat in der Verteidigung von Nichtregierungsorganisationen. Olef Petersen sagt, dass mit einem Wasserwerfer dieses Typs punktgenaues Zielen überhaupt nicht möglich sei.

Frank-Ulrich Mann verteidigt fünf bei dem Polizeieinsatz Verletzte und will für alle eine Schadenersatzklage einreichen. Vorerst aber hoffen er und Dietrich Wagner auf die Einsicht der neuen Landesregierung und auf eine außergerichtliche Einigung. Wie auch immer die Verhandlungen ausgehen, Dietrich Wagner wird weiter jeden Montag demonstrieren. "Ich habe schon in der ersten Nacht im Schlossgarten so viele interessante Menschen getroffen wie die vergangenen Jahre nicht mehr."

Erstaunen über die Solidarität

Daniel Kartmann meidet den Schlossgarten, seitdem der Strahl des Wasserwerfers ihn umgehauen hat. Der 34-Jährige sitzt in seinem Atelier im Stuttgarter Süden, das er vor kurzem angemietet hat, um Schlagzeug zu üben. Der Raum ist karg und ein wenig kühl. Während bei Dietrich Wagner die Wut überwiegt, ist es bei Daniel Kartmann das Erstaunen über die Solidarität, die er in den vergangenen Monaten erlebt hat. Auch der Musiker ärgert sich über Politiker, die versucht haben, "Demonstranten zu kriminalisieren". Auch er ärgert sich darüber, dass, wie er findet, bei Stuttgart 21 wirtschaftliche Interessen über das Allgemeinwohl gestellt würden. Aber die meiste Zeit erzählt der 34-Jährige von der Hilfsbereitschaft der Menschen.

Kaum war er aus der Augenklinik im Stuttgarter Westen entlassen, rollte die Lawine der Solidarität an. Fremde Menschen warfen Umschläge mit Geld in seinen Briefkasten, Steuerberater boten ihre Hilfe an, Freunde organisierten Benefizkonzerte. In der Kindertagesstätte sammelten die Eltern und bezahlten zwei Monate für Kartmanns jüngsten Sohn. "Ohne die Spenden hätte ich in den ersten zwei Monaten, in denen ich gar nicht arbeiten konnte, HartzIV beantragen müssen."

Rechtsstreit belastet Kartmann

Als er sich bei den Eltern bedankte, kamen dem Vater von drei Kindern die Tränen. "Es ist eine Mischung aus Scham und Dankbarkeit." Scham, weil Kartmann sein Geld immer selbst verdient hat. Dankbarkeit, weil er so viel Hilfsbereitschaft nie und nimmer erwartet hätte.

Daniel Kartmann hat noch immer Probleme, Noten zu lesen. Und er hat sich damit abgefunden, beim dienstäglichen Kick mit seinen Freunden das Tor nicht mehr zu treffen. Der 34-Jährige musste operiert werden, weil sich die Netzhaut auf dem rechten Auge ablöste. Sein Arzt Wilko Friedrichs sagt, dass der Eingriff gut verlaufen sei, auch wenn ihn dieser 2,5 Dioptrien gekostet habe. Geblieben ist Kartmann zudem eine stark geweitete Pupille, die ihn gegen Sonnenschein empfindlich macht. Trotzdem arbeitet der Familienvater wieder so viel wie früher. Nur gibt es diese Momente, in denen er feststellen muss, dass die Kräfte nachgelassen haben. Der Rechtsstreit belastet ihn und die vielen Termine, die mit dem 30. September zu tun haben.

Einen tröstlichen Ausstieg gefunden

Selbst in dem Marionettentheater Ernesto Hase scheint der 30. September 2010 durch. Daniel Kartmann hat in dem Stück, in dem eine Hasenfamilie von Polizisten in den Tod getrieben wird, schon vor zwei Jahren mitgespielt. "Damals haben die Kinder noch ganz anders auf die Polizei reagiert", erzählt er. "Für die Kleinen sind Polizisten immer Helden, seit dem 30. September ist das irgendwie anders." Dabei hat die Fassung für Kinder noch immer einen tröstlichen Schluss: Die Hasen landen in einer Traumsequenz auf einer idyllischen Insel.

Auch für sich hat Kartmann einen tröstlichen Ausstieg gefunden. "Egal, was noch kommt, der Protest gegen Stuttgart 21 hat so viel Kreativität und Produktivität freigesetzt wie kein Thema zuvor. Die Leute haben sich die Stadt zurückerobert." Deshalb sieht er den Stresstest und das Danach viel gelassener: "Wenn Stuttgart 21 gebaut wird, werde ich nicht auswandern."

Sierer will weiter protestieren

Der Musiker schaut von seiner Wohnung aus auf den Marienplatz, Ursula Sierer auf die halbe Stadt. Die 62-Jährige, die in hübscher Halbhöhenlage lebt, hat seit September einen anderen Blick auf Stuttgart und seine Regierenden. Ihren richtigen Namen will die Selbstständige nicht in der Zeitung lesen, weil sie nicht will, dass ihre Kunden von ihrem privaten Engagement erfahren. Ursula Sierer sagt, vorher sei sie auf eher stille Weise ein politischer Mensch gewesen, jetzt will sie gehört werden. Denn neuerdings muss sie Sätze lesen wie diesen, die ihr die Anwälte des Landes schreiben. "Ihre Verletzung wäre durch rechtstreues Verhalten vermeidbar gewesen." Sierer interpretiert die Ereignisse anders. "Ich bin der Anweisung der Polizei gefolgt, habe einen Weg frei gemacht und bin dadurch in die Nähe eines Wasserwerfers geraten."

Vor dem Einsatz im Schlossgarten stellte die Augenärztin bei ihr eine altersbedingte Kurzsichtigkeit fest, jetzt lautet die Diagnose Kontusionskatarakt, eine Prellung des Auges. Deshalb sieht Ursula Sierer Lichtblitze, und es besteht die Gefahr, dass sie früher am Grauen Star erkrankt als andere Menschen. Die wohlhabende 62-Jährige, die bis vor wenigen Monaten mit der Polizei außer bei Verkehrskontrollen nichts zu tun hatte, sagt jetzt Sätze, die es in sich haben: "Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem vorgerückten Alter noch staatlich angeordnete Brutalität erleben werde." Die 62-Jährige spricht von Lobbypolitik, Vetterleswirtschaft und beklagt sich über eine Staatsanwaltschaft, die aus ihrer Sicht alles andere als unabhängig ermittelt. Ursula Sierer will nicht mehr aufhören mit ihren Protesten. Bis der Tiefbahnhof begraben ist. "Und bis Politikern endlich die Augen aufgehen."