Angela Merkel erfuhr bei ihren Gesprächen in der Türkei auch, wie man dort mit Abgeordneten im Gefängnis umgeht. Ein Bericht über drei Monate Einzelhaft. 

Istanbul - Zwei Tage verbrachte Idris Baluken daheim mit Frau und Kindern, nachdem er aus dem Gefängnis entlassen wurde; am dritten Tag kam er heraus und traf sich mit Angela Merkel. Brandheiß bekam die Bundeskanzlerin in der vergangenen Woche berichtet, was der Parlamentsabgeordnete durchlebt hatte, seit er vor drei Monaten festgenommen wurde. Inzwischen hat Baluken auch seinen Wählern und der Öffentlichkeit davon berichten können, wie es ihm und vermutlich auch den anderen verhafteten Abgeordneten der kurdischen Partei hinter Gittern erging.

 

Was er zu erzählen hatte, dürfte Angela Merkel nicht kalt gelassen haben. Am 4. November vergangenen Jahres arbeitete Idris Baluken noch in seinem Abgeordnetenbüro im Parlament in Ankara und ging abends normal nach Hause. Kurz vor Mitternacht wurde er von Anrufen aufgeschreckt: Der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas sei in Diyarbakir von der Polizei abgeholt worden, und auch anderswo im Land würden HDP-Politiker festgenommen. Baluken eilte in die Parteizentrale, wo alsbald auch die Anti-Terror-Polizei auftauchte. Er werde mit Haftbefehl gesucht, eröffneten die Polizisten dem Abgeordneten und führten ihn ab.

Kontakt durch die Scheibe

Hatte Baluken bis dahin noch geglaubt, die Situation lasse sich bald klären, so verging ihm diese Hoffnung im Laufe der langen Nacht. Zusammen mit drei weiteren HDP-Politikern wurde er zunächst nach Diyarbakir geflogen – in einer großen Verkehrsmaschine, in der nur die vier Abgeordneten und ihre Bewacher saßen. Auf dem Flughafen von Diyarbakir wurden sie von bewaffneten Zivilpolizisten in zwei Kleinlaster verladen. „Ich dachte, sie bringen uns zum Gericht, doch sie fuhren aus der Stadt hinaus“, berichtet Baluken. „Ich fragte, wohin sie uns bringen, aber ich bekam keine Antwort.“ Zwei startklare Militärhubschrauber warteten auf einem Stützpunkt außerhalb der Stadt. Vermummte Soldaten befahlen den Politikern einzusteigen und verweigerten wieder eine Antwort auf die Frage, wohin sie gebracht würden.

Die Hubschrauber landeten schließlich in der südostanatolischen Provinzstadt Bingöl, dem früheren Wahlkreis von Baluken. Dort endete die Nacht für den Abgeordneten alleine in einer kalten und dunklen Zelle der Anti-Terror-Polizei, aber die Reise war noch nicht vorbei. Mit einem Kleinflugzeug wurde Baluken am nächsten Tag nach Izmit am Marmara-Meer geflogen und schließlich in die Haftanstalt Kandira im Nordwesten der Türkei gebracht. Das Schlimmste hatte Baluken da noch vor sich. „Drei Monate lang bin ich alleine gewesen“, berichtet der Abgeordnete. Ein Vierteljahr lang saß der Parlamentarier in der Einzelhaft – „eine Folter, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, nennt er das heute. Mit zwei anderen HDP-Politikern in derselben Anstalt durfte er in diesen drei Monaten nur dreimal sprechen, mit seiner Familie einmal in der Woche in einer Kabine durch die Scheibe und einmal im Monat unmittelbar, außerdem nur mit seinen Anwälten. „Ansonsten sind mir keinerlei Kontakte gestattet worden – keine Gespräche mit anderen Gefangenen, kein gemeinsamer Sport, keine Telefongespräche“, berichtet Baluken.

„Inszenierte Einschüchterung“

Um nicht den Verstand zu verlieren, habe er sich selbst ein tägliches Programm auferlegt und strikte Disziplin gewahrt, erzählt der Abgeordnete: Lesen, Laufen, Kultur, Sport. „Die Isolationshaft macht den Menschen sonst psychologisch und sozial kaputt“, sagt er. „Wenn man auch nur einen Augenblick innehält und sich von der Verzweiflung überwältigen lässt, dann bricht man seelisch zusammen.“ Und die Hoffnung dürfe man keine Sekunde lang aufgeben, fügt er hinzu, sonst sei man verloren. Zehn Jahre Haft forderte die Staatsanwaltschaft für Baluken, als sie zwei Monate nach seiner Verhaftung die Anklage vorlegte.

Propaganda für eine Terrororganisation, Verherrlichung von Straftaten und Volksverhetzung legte sie ihm darin zur Last – alles Vorwürfe, die sich auf seine Reden und Schriften als gewählter Parlamentarier beziehen, und kein einziges Gewaltdelikt dabei. Das Gericht setzte Baluken dann auch am ersten Verhandlungstag letzte Woche auf freien Fuss. Um Recht und Gesetz sei es bei der ganzen Aktion ohnehin nicht gegangen, meint Baluken, sondern um eine inszenierte Einschüchterung. So recht könne er sich noch nicht an seiner Freiheit freuen, sagte der Abgeordnete bei der Haftentlassung, denn viele seiner Kollegen bleiben im Gefängnis.

Die linksgerichtete Partei HDP tritt für die Rechte von Minderheiten ein, auch die der kurdischen Minderheit. Bei der Wahl im November 2015 hatte sie 10,8 Prozent der Stimmen erzielt.