Er ist facettenreicher Universalmusiker und setzt sich außerdem für den Frieden ein: Daniel Barenboim wird am Donnerstag siebzig Jahre alt.

Stuttgart - Am 21. August 2005 wurde wahr, was viele für unmöglich hielten: das West-Eastern Divan Orchestra, in dem junge Musiker aus Israel, Palästina, Jordanien, Syrien, Ägypten und Spanien miteinander musizieren, gab ein Konzert in Ramallah, der Stadt unweit von Jerusalem, die abgeschlossen in den von Mauern und Stacheldraht umgebenen palästinensischen Autonomiegebieten im Westjordanland liegt. Hierher zu reisen, um Mozart und Beethoven aufzuführen, erforderte Mut, viele Gespräche und diplomatisches Geschick. Erst als die Musiker spanische Diplomatenpässe bekommen hatten, die israelischen Musiker unter größten Sicherheitsvorkehrungen für diesen einen Tag einreisen konnten, erfüllte sich für Daniel Barenboim ein Traum, der mit der Orchestergründung 1999 in Weimar begonnen hatte.

 

Das Projekt schafft Verständnis, aber keinen Frieden

Mit seinem Freund, dem palästinensischen Literaturwissenschaftler Edward Said, hatte Barenboim das Projekt angestoßen. Der in Argentinien geborene Enkel von aus Russland ausgewanderten Juden, mit seinen Eltern im Alter von neun Jahren nach Israel gekommen, weiß, dass er nicht mehr leisten kann als junge Menschen, die sich sonst nicht treffen würden, zusammenzubringen. In seiner Ansprache nach dem Konzert in Ramallah gab sich der jedem Pathos abholde Barenboim keinen Illusionen hin in Bezug auf das Verhältnis von Palästinensern und Israelis: „. Was das Projekt bringen kann, ist Verständnis, Geduld, Mut und Neugier, um zu hören, was der andere zu sagen hat.“ Barenboim sieht für die Region nur einen Weg: „Entweder bringen wir uns gegenseitig um, oder wir lernen, das zu teilen, was es zu teilen gibt.“

Keine politischen Ambitionen

Um Missverständnissen vorzubeugen, sagt Barenboim oft: „Ich bin kein Politiker, und ich habe keine politischen Ambitionen“. Er sieht das musikalische Engagement für den Frieden pragmatisch: „Wer Geige oder Cello üben muss, hat keine Zeit, auf radikale Gedanken zu kommen.“ Mag Barenboim das Politik-Wort meiden und es durch Humanität ersetzt haben wollen: er steht in jedem Fall in einer Reihe mit Musikern, die sich für den Frieden engagierten, Musikern wie den Dirigenten Arturo Toscanini, Leonard Bernstein, oder Yehudi Menuhin.

Mit den jährlichen Projektphasen des West-Eastern Divan Orchestra wäre jeder andere ausgelastet – nicht Daniel Barenboim. In dem Leben dieses kleinen großen Mannes, der am Donnerstag siebzig wird, scheinen sieben und mehr Leben vereint zu sein. Warum auch soll er rasten, wenn so viel Musik in ihm steckt? Barenboims Geheimnisse sind Geduld und Hartnäckigkeit. Die faszinierende Energie, die scheinbare Ruhelosigkeit irritieren seine Kritiker – vor Barenboims Konzentrationsfähigkeit müssen auch sie die Mäkelwaffen strecken.

Der universelle Musiker

Wer einmal erlebt hat, wie er mit der Staatskapelle Berlin, die ihn vor zwölf Jahren zum Chefdirigenten auf Lebenszeit gewählt hat, beispielsweise Wagners „Parsifal“ aufführt, der versteht, was gemeint ist. Barenboim, wie meistens im Kellnerfrack und mit offenem Hemdkragen, schwimmt quasi im Orchester, mit dem Konzertmeister Wolf-Dieter Batzdorf herrscht eine drahtlose Dauerverbindung, der Geiger moduliert die Impulse des Dirigenten, entschlüsselt sie für die Musikerkollegen, wenn es mal nötig ist. Die Kapelle reagiert auf Barenboim, als wäre sie ein Körper, ohne dass die Musiker ihre Individualität verloren haben. So entstehen Klangbögen, Farbmischungen und ein Auf-die-Bühne-Hinaufspielen, wie es heute selten geworden ist.

Wilhelm Furtwängler ist Barenboims Vorbild

Barenboim, das ehemalige Wunderkind, kann alles, ist aber kein Alleskönner. Sein einziger Klavierlehrer ist sein Vater gewesen, alles andere lernte er durch offene Augen und Ohren, das Dirigieren in einigen Meisterkursen, etwa bei Igor Markewitsch. Bis heute ist Barenboims Vorbild Wilhelm Furtwängler, dem er als Elfjähriger kurz vor dessen Tod 1954 vorspielte. Furtwängler erkannte das „Phänomen“ des Jungen sofort, lud ihn zu Konzerten mit den Berliner Philharmonikern ein, wozu es nicht mehr kam. Von dem Deutschen hat der Dirigent Barenboim – er debütierte am Pult 1962 – das Denken in Bögen übernommen, Legato und Sostenuto stehen oft im Vordergrund artikulatorischer Gestaltung.

Was bei Wagner aufgeht, funktioniert bei Beethoven-Sinfonien nur bedingt. Da bekommen Barenboims Aufführungen etwas von der Art: der Onkel erzählt was von den guten alten Zeiten. Man verzeiht es dem universellen Musiker, der Millionen von Noten gespeichert hat. Beethovens 32 Klaviersonaten, Bachs „Wohltemperiertes Klavier“, Mozarts Konzerte, Sonaten und Opern, Chopin, Schumann, Schubert, Brahms, Verdi, Wagner, wer zählt die Komponisten und Werke – alles auswendig, jederzeit abrufbereit. Dazu die vielen zeitgenössischen Partituren, die Barenboim – früher noch öfters – aufführt: Carter, Boulez, Takemitsu, Henze, Dutilleux.

Grenzen akzeptiert der Musiker nicht

Als Musiker ist Barenboim ebenso ein Phänomen wie als öffentliche Figur: er akzeptiert keine Grenzen. Als Friedensbotschafter hat ihm das massenhaft Preise und Ehrungen eingebracht, der Musiker gerät manchmal ins Niemandsland. Sein Neujahrskonzert mit den Wiener Philharmonikern 2009: da fehlte der Beiselschmäh; die Klaviersolowerke von Chopin, Schubert und Beethoven knarzen mittlerweile unter dem pauschalen (und oft danebengehenden) Zugriff des Kapellmeisterpianisten. Zu Mahler, dem Zerrissenen, kam Barenboim spät, das Verhältnis bleibt problematisch. Die positivistische Siebte gelingt ihm am besten.

Daniel Barenboim würde sicher widersprechen, vor allem aber sagen: es gibt immer wieder eine Chance, Musik verklingt, aber sie wird jeden Tag neu geboren. In seinem Buch: „Musik – Mein Leben“ heißt es: „Keine musikalische Aufführung stellt das Ende eines Weges dar: Sie ist immer der Anfang eines neuen Weges.“ Und so wird er von Neuem beginnen.