Spanien hat eine fast fünf Mal höhere Organspenderate als Deutschland. Nicht weil die Spanier bessere Menschen wären. Sondern weil das System besser organisiert ist.

Korrespondenten: Martin Dahms (mda)

Madrid - „Die Debatte wird falsch geführt“, sagt Beatriz Domínguez-Gil. Sie meint die deutsche Organspendedebatte, die sich auf die Spendebreitschaft der Menschen konzentriere, darauf, wie die Gesellschaft von den Vorzügen der Organspende zu überzeugen wäre. „Dabei geht es eher um strukturelle und Organisationsreformen, die durchgeführt werden müssten.“

 

Das Wort von Domínguez-Gil hat Gewicht. Sie ist die Direktorin der spanischen Nationalen Transplantationsorganisation (ONT). Spanien ist seit einem Vierteljahrhundert Organspendeweltmeister. Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Organspender weiter gestiegen, um 8,1 Prozent. Das macht 46,9 Organspender pro Million Einwohner, fast fünf Mal mehr als in Deutschland, wo diese Rate im vergangenen Jahr auf 9,7 gefallen ist. Weil einem Spender auch mehrere Organe entnommen werden können, gab es in Spanien im vergangenen Jahr insgesamt 5261 Transplantationen.

Das System funktioniert in Spanien ohne Werbung

Das System funktioniert, ohne dass die Spanier zur Solidarität aufgefordert werden müssten. „Wir stecken kein Geld in Werbekampagnen“, sagt Domínguez-Gil. Der Erfolg des Systems ist dessen beste Werbung. Die Spanier, die ihren Institutionen sonst eher misstrauisch gegenüber stehen, vertrauen der ONT. Manchmal kommen sie den Ärzten und Pflegern im Krankenhaus zuvor, wenn ein Angehöriger im Sterben liegt, und bringen von sich aus das Gespräch auf die Organspende: „Wenn man nichts mehr für ihn tun kann – er wollte Organspender sein, haben Sie das doch bitte im Kopf.“ So bekommt es die ONT-Direktorin von den Transplantationskoordinatoren aus den Krankenhäusern erzählt, „immer häufiger“.

Der Erfolg des Systems ist vor allem Rafael Matesanz Mann geschuldet. Der Nierenfacharzt gründete 1989 die nationale Transplantationsorganisation und blieb, mit einer kurzen Unterbrechung, bis zum vergangenen Jahr ihr Direktor. „Er hatte ein klares Ziel“, sagt seine Nachfolgerin Domínguez-Gil, „er war ein großartiger Teamorganisator, und er hat sehr vehement seine Ideen verteidigt, wie die Dinge zu machen seien.“

Organspende ist in Spanien Aufgabe der Krankenhäuser selbst

Die wesentliche Entscheidung war es, die Organspende zur Aufgabe der Krankenhäuser zu machen, statt damit eine außenstehende Institution zu beauftragen. In jeder der 188 spanischen Kliniken, in denen Organe entnommen werden können, gibt es einen Transplantationskoordinator, gewöhnlich einen Intensivmediziner, mit einem dazugehörigen Team. Ihre Arbeit wird fortlaufend evaluiert, und die Teammitglieder erhalten regelmäßige Fortbildung. Sie erkennen, wenn ein Patient dem Tod entgegengeht und als Organspender in Frage kommt.

Daran scheitern Systeme mit niedrigen Organspenderaten wie das deutsche: nicht am fehlenden Willen der Menschen, im Todesfall ihre Organe herzugeben, sondern an fehlender Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit des zuständigen Personals wird in Spanien belohnt, was manche im Land kritisieren. Doch dass gute Arbeit auch gut bezahlt wird, hält die ONT für selbstverständlich. Zumal die Organspende nicht nur dem Empfänger zu einem besseren Leben verhilft, sondern auch das Gesundheitssystem finanziell entlastet. Eine jahrelange Dialyse ist teurer als eine Nierentransplantation.

Die wenigsten misstrauen den Erklärungen, dass ihr Angehöriger auch wirklich tot ist

Die zweite wichtige Aufgabe der Transplantationsbeauftragten ist das Gespräch mit den Angehörigen. In einer emotional ohnehin schwierigen Situation, angesichts des nahenden Todes eines geliebten Menschen, sollen sie sich der Frage stellen, ob dieser wohl mit der Entnahme seiner Organe einverstanden wäre. Das spanische Transplantationsgesetz von 1979 geht – anders als das deutsche – davon aus, dass jeder zur Organspende bereit ist, es sei denn, er widerspricht dem zu Lebzeiten. Das kann er vor einem Notar tun, oder indem er sich in einem speziellen Register anmeldet. Es reicht aber auch, dass er gegenüber seiner Familie verkündet, dass er von der Organspende nichts hält.

Deswegen ist das Gespräch mit den Angehörigen so wichtig. Sie sollen im Namen des Sterbenden glaubwürdig versichern, dass er einer Organentnahme zustimmen würde. Im vergangenen Jahr sagten in diesen Gesprächen 87 Prozent der Angehörigen Ja zur Organspende. „Eine außergewöhnlich hohe Rate“, sagt Domínguez-Gil. Die Spanier haben keine Vorurteile gegen die Organspende, und die wenigsten misstrauen den Erklärungen, dass ihr Angehöriger auch wirklich tot ist, wenn ihm die Organe entnommen werden.

Anders als in Deutschland sind Organentnahmen nach einem Herzstillstand erlaubt

Das spanische Transplantationssystem war schon vor zehn Jahren außergewöhnlich erfolgreich. Dass es noch erfolgreicher wird, erklärt die ONT-Direktorin mit drei neueren Entwicklungen. Zum Ersten wird die Sensibilisierung und Fortbildung des medizinischen Personals in Sachen Organspende auf Abteilungen jenseits der Intensivstationen ausgeweitet. Zum Zweiten steigt das Durchschnittsalter der Organspender: Der älteste, dem in Spanien ein Organ entnommen wurde, war 94 Jahre alt – das geht, weil auch die Empfänger immer älter werden.

Zum Dritten sind in Spanien, anders als in Deutschland, Organentnahmen nach einem Herzstillstand erlaubt, und die machen mittlerweile ein gutes Drittel aller Organspenden in Spanien aus. Der Tod eines Menschen tritt mit dem Erlöschen seiner Hirnfunktionen ein. Manchmal geschieht das, während Maschinen noch den Rest des Körpers am Leben erhalten. Dieser Hirntod ist überall die normale Voraussetzung für eine Organentnahme. Wenn umgekehrt das Herz zu schlagen aufhört, während das Hirn noch Lebenszeichen von sich gibt, sind die meisten Gesetzgeber vorsichtig und untersagen in diesem Fall eine Organentnahme. Den Spaniern genügt zu wissen, dass kurze Zeit nach dem Herzstillstand auch der Hirntod eintritt. Niemandem wird ein Organ entnommen, der noch leben könnte.

Die ONT-Direktorin Domínguez-Gil ist davon überzeugt, dass Deutschland auch ohne Gesetzesänderung seine Organspenderate wesentlich erhöhen könnte. Dass es vor ein paar Jahren einen Korruptionsskandal im deutschen System gab, könne nicht als „ewige Rechtfertigung“ für die schlechten deutschen Zahlen herhalten. „Ein Land wie Deutschland muss da was tun.“

Sonderfall Nierentransplantationen

Die einzige Zahl, die im spanischen Transplantationssystems leicht nach unten weist, ist die der Lebendspenden zwischen engen Verwandten oder Lebenspartnern. Vermutlich liegt dieser Rückgang daran, dass die Aussicht, in absehbarer Zeit das Spenderorgan eines Verstorbenen zu erhalten, im Laufe der Jahre immer besser geworden ist. Etwa 30 Prozent derjenigen, die bereit wären, einem geliebten Menschen ihre Niere zu spenden, müssen darauf wegen Unverträglichkeiten beim Empfänger verzichten.

Ein Ausweg ist die Überkreuzspende: Zwei Paare werden zusammengebracht, um die Niere des Gesunden jeweils dem Partner des anderen zu spenden. In Deutschland ist das verboten. Mindestens in einem Fall hat sich deswegen schon ein deutsches Paar auf den Weg nach Barcelona gemacht, um hier an einer Überkreuzspende teilzunehmen. „Mich bekümmern diese legalen Hürden für ein ethisch angemessenes Verfahren“, sagt die ONT-Direktorin Domínguez-Gil.