Osama bin Laden hat unerkannt in der Nähe einer Militärakademie gelebt. Im Westen gibt es Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Tötung.

Islamabad - Es war eine der wichtigsten Zeremonien der pakistanischen Streitkräfte. General Ashfaq Kayani höchstpersönlich nahm am Ostersamstag auf dem Exerzierplatz der Kakul Militärakademie in Abbottabad die Parade der jungen Kadetten ab, die ihre Abschlussprüfung bestanden hatten. "Wir haben das Rückgrat der Extremisten gebrochen", verkündete der Armeechef im Beisein von Dutzenden von ausländischen Militärattachees - nur ein paar Hundert Meter entfernt vom "Waziristan House", wie die Nachbarn das Versteck von Osama bin Laden nannten.

 

Es war bereits die zweite Visite Kayanis innerhalb eines halben Jahres. Wie vor jedem Besuch war zuvor die Umgebung auf Herz und Nieren überprüft worden. Gully-Deckel wurden hochgehoben, um versteckte Bomben aufzuspüren. Sicherheitspersonal ging von Haus zu Haus und fragte die Bewohner aus. "die Sicherheitsvorkehrungen grenzten an Schikanen", beklagte sich am Dienstag ein Arzt in der Stadt. "Es gab Straßensperren und wir mussten uns ausweisen", erinnerte sich der 21-jährige Wirtschaftsstudent Saifullah.

Seit den Mordanschlägen auf den ehemaligen Diktator Pervez Musharraf lassen die Sicherheitskräfte des Landes kaum eine Vorsichtsmaßnahme aus, wenn der Armeechef sein Hauptquartier in Rawalpindi verlässt. Doch die pakistanische Regierung in Islamabad klammert sich eisern an die Behauptung, dass Osama bin Laden - obwohl er sich jahrelang nur knapp einen Kilometer von der Militärakademie entfernt aufgehalten hat - übersehen worden sei.

Geheimdienst: "Wir waren nicht so gut"

"Ich habe keine Erklärung dafür, wieso uns das entgangen ist", sagt ein hochrangiger Vertreter der pakistanischen Geheimdienstes ISI, "diesmal waren wir nicht so gut." Der Mann weiß selbst, dass er ziemlich lahm klingt. Talat Masood, ein ehemaliger Generalleutnant und Staatssekretär, kann kaum fassen, dass die Behörden nichts gewusst haben sollen: "Es gibt nur zwei Erklärungen. Entweder totale Unwissenheit oder Komplizenschaft. Für beides gibt es keine Entschuldigung."

Immer wieder verweist Islamabad darauf, dass 170.000 Soldaten - mehr als die 160.000 ausländischen Truppen amHindukusch - entlang der zerklüfteten Grenze zu Afghanistan stationiert sind. Mehr als 30.000 Menschen starben während der vergangenen Jahre in Pakistan bei Terroranschlägen. Fast 1000 ausländische Terroristen wurden seit 2001 in Pakistan verhaftet, darunter so prominente Figuren Khalid Sheikh Mohammed, einer der Chefplaner der Attentate vom 11. September in New York. Erst im Januar erwischte Islamabad just in Abbottabad jenen indonesischen Umar Patek, der hinter dem Bali-Attentat von 2002 steckte.

Warum blieb das Versteck geheim?

 All diese Informationen werfen Fragen auf, wie es bin Laden gelungen ist, so lange unerkannt im Herzen Pakistan unterzuschlüpfen. Die Antwort liegt nahe, doch öffentlich will sie in Pakistan niemand geben. "Für mich ist absolut klar, dass er von den Sicherheitskräften versteckt wurde", sagt ein einheimischer Journalist, der seinen Namen freilich nicht nennen willen. "Sie haben diese Leute früher gebraucht und glauben, sie auch zukünftig noch brauchen zu können." Doch es gibt auch andere Stimmen. "Es ist nicht vorstellbar, dass sie jemand deckten, der ihre eigenen Leute ermordet hat. Außerdem hätte er wohl kaum die Familie dabei gehabt, wenn er von ihnen versteckt wurde", meint Ex-General Masood.

USA misstrauen Verbündeten

Rückblende: Während der sowjetischen Invasion in Afghanistan kämpften die islamischen Untergrundkämpfer mit westlicher Unterstützung gegen Moskaus Truppen am Hindukusch. Später nutzte Pakistan die gleiche Strategie, um den indischen Teil Kaschmirs zu destabilisieren. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre half Pakistan den radikalislamischen Talibanmilizen bei dem Versuch, Afghanistan unter Kontrolle zu bringen. Auch nach 2001 zog Pakistan, längst Teil der weltweiten Allianz gegen den Terror, feine Trennlinien. Einheimische Extremisten, die in Kaschmir eingesetzt waren, wurden weitgehend in Ruhe gelassen. Ausländische Mitglieder von Al-Qaida verhaftet. Die afghanischen Taliban ließ man weitgehend gewähren, weil Islamabad sie für seine poltischen Ziele am Hindukusch einspannte.

Bei der "Kill-Operation" gegen Osama, wie die USA die Operation bezeichneten, wurde jedenfalls deutlich, wie wenig die USA ihrem Verbündeten trauen. Vor mehr als zehn Jahren war Osama bei einer von Bill Clinton angeordneten Attacke mit Cruise Missiles entkommen, weil Pakistan von dem Angriff erfuhr und den Sheikh gewarnt hatte. Diesmal wurde Pakistans Präsident Zardari wurde erst informiert, als das Unternehmen schon lief.

Unklar ist, wann Pakistans Militär von der Operation erfuhr. Die Zeitung "The Nation" berichtete schon am Montagmorgen von einem mysteriösen Hubschrauberabsturz in Abbottabad und es ist unwahrscheinlich, dass die Generäle untätig geblieben wären, wenn sie nichts gewusst hätten, zumal in der Nähe von Abbottabad Atomwaffen gelagert sein sollen und die Gegend besonders abgesichert ist.

Ein Netz aus Korruption überzieht Pakistan

Pakistan ist zudem von einem feinmaschigen Netz der Korruption überzogen, bei dem Spitzen der Behörden oft nicht wissen, was ihre Untergebenen treiben. Niedere Chargen des Geheimdienstes ISI lassen sich gerne von Privatleuten einspannen, um politisch missliebige Pakistaner zu denunzieren oder einzuschüchtern.

Nach der Operation der Amerikaner herrscht bei der Regierung in Pakistan Krisenstimmung. General Kayani sagte eine lange geplante Reise zur Nato in Brüssel ab. Am 30. April hatte er beim "Märtyrertag" der Streitkräfte noch erklärt, Pakistan entscheide alleine über seine Zukunft. Nun wartet die vom Terror gebeutelte Nation auf eine schlüssige Erklärung auf die Fragen, die der Tod Osamas aufwirft - und auf Antworten, die auch der Rest der Welt gerne hören würde. Die Zeitung "Express Tribune" titelte am Dienstag: "Sogar tot bleibt Osama ein Alptraum für Pakistan."

Hoffnunf auf Einblick in die Pläne Al-Qaidas

Computer Die USA hoffen auf neue Erkenntnisse über die Pläne des Terrornetzwerkes. In Bin Ladens Haus seien ein Computer und mehrere Festplatten gefunden worden, berichtete die US-Online-Zeitung „Politico“ am Dienstag. Die Datenträger würden von Spezialisten eingehend untersucht.

Auswertung Dem US-Sonderkommando sei ein wahrer Schatz an Informationen in die Hände gefallen, schrieb „Politico“. Die sichergestellten Datenträger würden von Hunderten Experten an einem geheimen Ort in Afghanistan gesichtet. Geheimdienstler in Washington seien begeistert. „Wenn nur zehn Prozent davon verwendbar ist, dann wäre das toll.“ dpa