Sami Khedira – von der Heldengeschichte zur Pechvogelgeschichte. Der Fußball-Nationalspieler, der im WM-Finale kurzfristig verletzungsbedingt nicht auflaufen konnte, tut allen leid, ganz besonders unserem Kolumnisten Oskar Beck.

Rio de Janeiro - Als letzten Sonntag vor dem Finale in Rio die Hymne gespielt wurde und die Fernsehkamera die Gesichter der zweiundzwanzig Spieler in Großaufnahme in die Welt übertrug, hat ausgerechnet der gefehlt, der es am meisten verdient gehabt hätte, da unten zu stehen.

 

Sami Khedira war nicht dabei.

Alles war bestens, seine Welt war in Ordnung, aber dann hat das Unglück ihn schlagartig wieder knüppeldick heimgesucht. Beim Warmlaufen ist es passiert, die Wade hat sich verhärtet, und im letzten Moment ist der Name Khedira vom Spielberichtsbogen wieder gestrichen worden. Der Fußballgott, falls es ihn geben sollte, ist ein lausiger Gott und ein ungerechter Allmächtiger – ein paar Minuten vor dem Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft stiehlt man keinem Spieler seinen größten Traum.

Sami Khedira tut allen leid.

Aber vor allem mir, denn er hat jetzt nicht diese Pechvogelgeschichte inmitten von Heldengeschichten verdient. Vor ein paar Tagen hatte er mir im DFB-Fischerdorf in Santo André im Schnelldurchlauf noch mal erzählt, was er in diesen herausfordernden letzten Monaten an Folter, Qualen und Rückschlägen durchgemacht hat und was er vollbracht hat. Sogar den Wandspruch „Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern etwas länger“ hat Khedira ad absurdum geführt – sonst wäre er als Wunder nicht zu Beginn der WM auf dem Platz gestanden, gesund und topfit, pünktlich zum größten Ereignis des Sports.

„Für eine WM“, hat er letzte Woche gesagt, „gibt man als Fußballer, was man in sich hat.“

„Machen Sie es vollends gut“, habe ich ihm dann noch gewünscht – denn wenn Sami Khedira nicht hier bei der WM wäre, wäre vermutlich auch ich nicht hier.

Fataler Zweikampf mit Andrea Pirlo im November 2013

Die Geschichte beginnt am 15. November 2013. Es war ein trauriger, trostloser Abend. Im Rollstuhl wurde Khedira durch einen Mailänder Krankenhausflur geschoben, denn beim Länderspiel im Giuseppe-Meazza-Stadion war ihm im Zweikampf mit Andrea Pirlo der Albtraum jedes Fußballerknies widerfahren: Kreuzbandriss und Innenbandriss. Wir Journalisten sind in solchen Dingen Flachlandtiroler, denn am Laptop ist die Gefahr solcher Verletzungen eher gering, aber jedem war, als es passierte, sofort klar: Das war es. Sechs Monate dauert das Beheben eines solchen Malheurs, mindestens, und selbst wenn man dann wieder den Ball trifft, fehlt einem für eine WM die nötige Wettkampfpraxis und der unerlässliche Spielrhythmus.

Aus, basta.

Khediras Chance war kleiner als die einer Sau beim Metzger, und er hatte zwei Möglichkeiten in diesem Moment. Die naheliegende war die, den Krempel hinzuschmeißen und aufzugeben. Aber es gibt nun einmal auch Kerle, die gebaut sind wie er, und während sein Vater neben ihm mit den Tränen kämpfte, griff der Sohn im Rollstuhl zum Handy, rief den Arzt seines Vertrauens an, und schon anderntags hat ihn Doktor Boenisch in Augsburg operiert. „Es bringt nichts, lange zu hadern, zu zetern und das Schicksal zu beklagen“, hatte Sami Khedira vor dem Endspiel gesagt.

Das ist ein großes Wort, und ich ahne, was er meint, denn fünf Wochen vor der WM habe ich dummer Weise Tennis gespielt, bis zu einem schnellen Schritt nach links. Plopp hat es gemacht, einfach plopp. Vielleicht war es auch ein Peng, jedenfalls war es ein Knall. Man fällt bei so einem Achillessehnenabriss um wie erschlagen, spürt einen hässlichen Schmerz, sehnt sich nach der Vollnarkose, das Bein hat keine Kontrolle mehr, der Wadenmuskel hängt haltlos im Nichts, und man weiß sofort: WM ade.

Die besten WM-Chancen? „Khedira, knapp vor Ihnen.“

Fix und fertig war ich, mit Gefühlen wie Verzweiflung, Wut und Zorn, die allesamt so unnötig wie ein Kropf sind, und man greift in einem solchen Moment nach jedem Strohhalm – weil geteiltes Leid halbes Leid ist, war ich jedenfalls froh, als mir der der frühere VfB-Meisterarzt Dr. Thomas Frölich nach der Operation verriet, dass sich weitere vom Unglück heimgesuchte Patienten gerade für ihren WM-Traum quälten und Stahl und Eisen fraßen: Hoffenheims belgischer Torwart Koen Casteels, der sich das Schienbein gebrochen hatte, der von einem Kreuzbandriss getroffene Russe Dimitri Tarasow – ja, und eben auch Sami Khedira. Der kam in seinem VfB-Reha-Center immer mal wieder auf ein paar Kraftübungen vorbei.

Und wer, fragte ich, hat die besten Chancen?

„Khedira, knapp vor Ihnen“, sagte der Doc, „aber nur, wenn Sie die Sache mit dem Willen und der eisernen Disziplin angehen wie Sami. Er ist der perfekte Patient.“ Das habe ich dem perfekten Patienten letzte Woche in Santo Andre dann erzählt, und er lachte – hat das Lob aber widerspruchslos eingesteckt.

Ja, er war der perfekte Patient. Khedira hat seinem inneren Schweinehund keine Chance gelassen, was nicht selbstverständlich ist, denn es handelt sich dabei um einen fiesen Dreckskerl, der seine Opfer mit den hinterhältigsten Mitteln dazu bringen will, vor den Qualen und Zweifeln zu kapitulieren. Das fängt morgens mit dem Aufstehen an, dem Duschen, bei dem man nicht wegrutschen darf, dem mühseligen Anziehen, alles ist plötzlich eine grässliche Mut- und Geduldsprobe. Ohne fremde Hilfe bekam er die Hose nicht übers Knie, das Essen nicht auf den Teller und etliche Alltäglichkeiten nicht mehr geregelt, und wenn sich ein Topathlet über Nacht als Pflegefall fühlt, hat er ein Problem. „Man fühlt sich wehrlos, hilflos und niedergeschlagen“, sagt Khedira und meint Kopf und Körper.

Khediras Vater Lazhar kann auch hinlangen

Aber auch eine gerissene Achillessehne ist für diesen Schweinehund ein gefundenes Fressen. Gib auf, flüstert er dir zu, es kommt eine neue WM, es muss nicht Brasilien sein, und wenn man wochenlang in einem kniehohen, klobigen Stiefel schläft, sich in Stützstrümpfe quetscht, jeden Abend eine Thrombosespritze in den Bauch setzt, keinen Sport mehr treiben kann und statt der Schwellung am Fuß nur die Muskeln verschwinden, hat man irgendwann genug, spätestens nach der zwölften Lymphdrainage und der fünfzehnten Mahnung des Doktors: „Immer das Bein hoch!“ Wenn ich ihm dann zu erklären versuchte, dass man einen Bericht nicht mit gestrecktem Bein und dem Laptop auf dem Bauch formulieren kann, sagte er nur: „Wollen Sie nun zur WM?“

„Ich schaffe es nicht“, sagte ich.

„Sami schafft es“, sagte darauf der Doc.

Khedira als Ansporn und Vorbild, diese Therapie hat gepasst. Da hat einer sein Ding von A bis Z durchgezogen, ohne Kompromisse und ohne Rücksicht auf den Rückschlag.

„Woher haben Sie diese Disziplin?“

„Von meinen Eltern“, sagt Khedira. Auch Vater Lazhar kann hinlangen. Als junger Spund ist er der Schwäbin, die ihn im Urlaub in Tunesien damals tief beeindruckt hat, nach Oeffingen gefolgt, hat sie geheiratet und in einer Stahlfabrik gearbeitet. Und nun hat auch der Sohn die stählerne Disziplin dieses regionalen Menschenschlags, der aus Hartholz geschnitzt ist – er ist ein echter Remstaler. Genau wie ich. Und jetzt das: Er verletzt sich   beim Warmlaufen vor dem großen Finale.

Der Fußballgott ist ein Strolch.