Gerd Müller, der legendäre Mittelstürmer des FC Bayern München, wird an diesem Dienstag 70 Jahre alt. Er ist krank und dabei, sein Leben zu vergessen. Dafür erinnert sich unser Kolumnist.

Stuttgart - In jedem Leben gibt es ein paar Momente, die man sich im Gedächtnis einrahmt. Wie sich das bestenfalls anfühlt? Wie am 16. Oktober 1985.

 

An dem Tag spielte Deutschland in der WM-Qualifikation gegen Portugal – aber vor allem trafen wir Journalisten im Vorspiel auf eine kreuzgefährliche Mischung aus Ex- und Vizeweltmeistern, von Haller über Breitner, Hölzenbein und Grabowski bis Gerd Müller. Wiederholt musste Torwart B. mit mirakulösen Robinsonaden und unfassbaren Reflexen die Schnitzer seiner Vorderleute Niersbach (heute DFB) und Holzschuh („Kicker“) auswetzen, und am Ende ordnete der als „Pfeife aus dem Auswärtigen Amt“ berühmte Bonner Fifa-Schiedsrichter Walter Eschweiler ein Elfmeterschießen an, denn für jedes Tor spendete ein Sponsor tausend Mark für die Erdbebenhilfe in Mexiko. Es wurde geschossen, bis 27 000 Mark zusammen waren, und wir verloren 12:15. Warum es nicht 12:16 ausging? Lassen Sie es mich ohne falsche Bescheidenheit so sagen: Hexer B. fischte den Elfmeter von Müller aus der Ecke, und der Bomber der Nation stammelte im Rahmen des Ritterschlags: „Schwob, du bischd a Verrückter.“

Beste Wünsche und gemischte Gefühle

An diesem Dienstag gratuliere ich ihm, denn Gerd Müller wird 70. Aber zu den besten Wünschen gesellen sich gemischte Gefühle, und die dazugehörigen Fragen tun weh. Weiß er, dass er Geburtstag hat? Wie erlebt er ihn? Schaut er sich im Fernsehen die Champions League an? Wie reagiert er, wenn einer freistehend eine Chance verballert? Vor fünf Jahren ist der alte Bomber in solchen Momenten noch vom Sofa aufgesprungen, hat seine Nachbarn zusammengetrommelt und ihnen auf dem Sportplatz nebenan geschwind vorgemacht, wie er sowas noch nachts um halb elf als 65-jähriger Rentner erledigt – in Hausschuhen und mit verbundenen Augen hat er das Ding reingemacht, notfalls mit seinem berühmten Hintern. „Vor dem Tor“, sagte er immer, „derfscht net das Studieren anfangen.“

Vorbei. Gerd Müller ist in einem Heim, pflegebedürftig, und irgendwann wird er nicht mehr wissen, wer er war. Alzheimer. Er verliert sein Gedächtnis.

„Dann macht es bumm, ja und dann kracht’s“

Umso wichtiger ist es, dass sich die Welt an ihn erinnert – und nicht nur über Klopps englische Zukunft und Blatters jämmerliche Gegenwart diskutiert, sondern vor allem über die wunderbare Vergangenheit mit Gerd Müller. Wehmütig träumen sich die Nostalgiker unter uns in die glorreichen Zeiten zurück, als wir einen Vollstrecker hatten, der anno 72 binnen Jahresfrist 85 Kerben in die Torpfosten schnitzte. Schützenkönig wurde Müller sogar in einer Saison, als er sich dem Kartoffelsalat hingab, 80 Kilo mit in den Strafraum schleppte und ihm die Hose spannte. Mit allem, was ihm an Gliedmaßen und Weichteilen zur Verfügung stand, hat er vor dem Tor abgestaubt und den Titelsong seines unvergesslichen Hits untermauert: „Dann macht es bumm, ja und dann kracht’s, und alles schreit: Der Müller macht’s!“

Müller konnte mit dem Ball nicht zaubern, zum Laufen war er zu faul, und seine Beine zu kurz. Also hat er sich im Strafraum auf seinen vier Buchstaben ausgeruht und nicht vom Fleck gerührt, aus Angst, dass ihm sonst ein Querschläger entgehen könnte. Sein Bewegungsradius war geringer als der Durchmesser seiner Oberschenkel, und er ruhte als Denkmal in sich. Forscher der Sporthochschule Köln haben ermittelt: „Der erfolgreichste Mittelstürmer aller Zeiten hat es in manchem Spiel auf 3,5 Kilometer gebracht, während heute schon die durchschnittliche Laufstrecke eines Torwarts zwischen vier und fünf Kilometern liegt.“

Das Heimweh nach dem gegnerischen Strafraum

Müller hat sich auch nie auf die Flügel verirrt. „Wo bin ich?“, hätte er da draußen an der Eckfahne den Linienrichter fragen müssen, Heimweh nach dem Strafraum bekommen und womöglich nicht mehr zurückgefunden. Der Strafraum war sein Revier, und zwar so, dass ihn Harry Valérien, der Altmeister der Moderation, beim 40. Jubiläum der Bundesliga zu deren bestem Spieler aller Zeiten kürte – minutenlang applaudierten die Menschen stehend, und Müller musste schlucken und sagte: „Ich könnte heulen.“

Wie jetzt ganz Deutschland. Denn er war auch in der Bodenhaftung unser unübertroffenster Fußballheld aller Zeiten. Dieser stille und stinknormale Schwabe („I mag keine Party-Deppen“) hat einst in Nördlingen noch seine Lehre am Webstuhl erledigt, ehe er zur Weltsensation wurde, und er war stets auf der Flucht vor seiner Popularität, sie war ihm nicht geheuer, und ein Redner war er auch nie – vor lauter Maulfaulheit hat er sogar in einem Europacupspiel gegen Ajax zu sagen vergessen, dass er sich das Wadenbein angebrochen hatte, und auf die Zähne gebissen. WM-Held? Lebende Legende? Fußballgott? Weltstar? Als ihn der FC Bayern anno 78 an die Fort Lauderdale Strikers verkaufte, war das schon zuviel weite Welt.

Das Auswandern war nicht des Müllers Lust

Es ginge an der Wahrheit vorbei, wenn man mutmaßen würde, das Auswandern sei des Müllers Lust gewesen. Ich habe ihn damals in Florida besucht, er sprach drei Wörter Englisch, „yes“, „no“ und „coffee“, und beim Training stöhnte er: „A Bruthitz, jeden Tag – pass’ auf, sonscht kriegscht an Sonnenbrand.“ George Best war sein Nebenspieler, doch statt bei neunzig Prozent Luftfeuchtigkeit zu trainieren, kreuzte der verrückte Nordire an jenem Mittag nur kurz händchenhaltend mit zwei dürftig bekleideten Schönheiten auf, und nach fünfminütigem Blinzeln in die Sonne zog der kickende Playboy wieder ab, um mit den Mädels Besseres zu erledigen. Georgie war der erste Popstar des Fußballs, und ehe er viel zu früh starb, wurde er vollends mit dem Satz berühmt: „Die Hälfte meines Geldes ist für Whisky, Weiber und schnelle Autos draufgegangen – und den Rest habe ich einfach verprasst.“

Auch Müller wäre wegen des Alkohols fast vor die Hunde gegangen. Haben zu der Zeit, weit weg von daheim, die Probleme begonnen? Es war wie die Fortsetzung eines Stücks von Ludwig Thoma. Als der bayrische Dichter seinen Postsekretär Angermayer in den Himmel kommen ließ, geschah im Vorraum des Paradieses das Folgende: „Da stand, seine Unbehaglichkeit zu steigern, eine Menge Leute um ihn herum, die sichtlich nicht alle aus Bayern oder gar aus München gekommen waren.“ So oder ähnlich kam sich auch Müller in Florida vor. Kein Franziskanerkeller, kein Andechser, kein Radi, kein Knödel.

Ein Treffen bei einem trockenen Salat

Er fiel in ein Loch. Wenig später begann er zu trinken. Aber er hat der Sucht die Stirn geboten. Anfang der 1990er Jahre saßen wir beim Mittagessen, und er hatte vor sich einen trockenen Salat. Er holte einen Flachmann aus der Tasche, ließ ein paar Tropfen in die Schüssel fallen und schaufelte alles gut um. Erschrocken starrte ich ihn an – aber er lachte und beruhigte mich: „I hab nur meinen eigenen Essig dabei.“ Denn schon ein paar Tropfen Weinessig im Salat hätten ihn wieder in den Rückfall getrieben oder zum Dessert eine Schwarzwälder Kirschtorte. „Bringen S’ mir einen Kaffee“, sagte der Bomber zum Wirt.

Mit Hilfe von Uli Hoeneß und seiner alten Bayern ist Müller wieder auf die Beine gekommen. Eisern hat er seine Sucht bekämpft und war dabei nochmal wie früher vor dem Tor: Weltklasse.

Gerd Müller lebt in seinem Nebel des Vergessens. Wir werden ihn nicht vergessen. Wir danken ihm für alles, was er uns gegeben hat.

Vergelt’s Gott, Verrückter.