Das Jahr 2014 zeigt: Die Sportwelt richtet den Blick auf das Wesentliche – von Österreich über Holland bis Amerika geht es fast nur noch um eine Sache: den Fußball.

Stuttgart - Glaubhaften Massenumfragen zufolge geht dieses Sportjahr zu Ende mit drei großen Gewinnern: Auf Platz eins liegt mit großem Vorsprung der Fußball, vor dem Fußball und dem Fußball.

 

Lassen Sie sich also auf keinen Fall verrückt machen vom absurden Ergebnis der kürzlichen Sportlerwahl in Baden-Baden. Eine Skifahrerin und ein Leichtathlet wurden auf Augenhöhe mit den Weltmeistern von Rio gekürt, aber über die Vielfalt, die da vorgegaukelt wurde, kann König Fußball nur schäbig lachen, denn als Alleinherrscher des Sports macht er eine knallharte Rechnung auf: Robert Harting muss seinen Diskus verdammt oft über die Wiesen schleudern, bevor er auf die 540 000 Euro kommt, die Marco Reus als Fußballer des Jahres allein dafür geschwind locker aus dem Ärmel schüttelt, dass er jahrelang ohne Führerschein durch die Prärie gebrettert ist – zuletzt mit einem 500 PS starken Aston Martin, in dem normalerweise James Bond die Welt vor der Apokalypse rettet.

Selbst Halla, die Wunderstute, hätten wir vorgezogen

Warum Harting trotzdem Sportler des Jahres geworden ist und die DFB-Stars nur den Mannschaftstrostpreis gewonnen haben? Weil in Deutschland wir Sportjournalisten abstimmen, mit unserem weichen Herz für die Entrechteten und Geknechteten. Noch nie war ein Fußballer Sportler des Jahres, nicht einmal Fritz Walter oder Franz Beckenbauer – selbst Halla, die Wunderstute von Hans-Günter Winkler, hätten wir ihnen im Zweifelsfall vorgezogen. Wir Sportjournalisten wählen eher Wurftaubenschützen, Vielseitigkeitsreiter, Einhandsegler oder Diskuswerfer und huldigen der herzensguten, alten Devise: Füttert die hungernden Vögel. Die Geldsäcke des Millionenspektakels Fußballs überleben den Winter schließlich auch so.

Der Fußballzirkus boomt dermaßen, dass jedes Kind weiß, wie eine Volksabstimmung im Internet geendet hätte, mittels Massenmausklick. Sportler des Jahres wäre Manuel Neuer vor Philipp Lahm und Miro Klose geworden, Sportlerin des Jahres Nadine Kessler vom Champions-League-Sieger VfL Wolfsburg – und bei der Mannschaft des Jahres hätten die DFB-Weltmeister vor dem FC Bayern, den Frauen des VfL Wolfsburg und der Ersatzbank des FC Bayern gewonnen.

Sie lachen? Dann hilft Ihnen vielleicht ein kurzer Blick in die Realität, genau gesagt ins benachbarte Ausland. In Österreich ist zum Beispiel soeben zum zweiten Mal hintereinander kein Skifahrer und Schanzenspringer mehr Sportler des Jahres geworden, sondern David Alaba, der linke Verteidiger des FC Bayern. Und in Holland können sogar die Eisschnellläufer inzwischen einpacken. Sporttrainer des Jahres wurde Louis van Gaal, Mannschaft des Jahres seine WM-Dritten von Brasilien – und Sportler des Jahres der Bayern-Rechtsaußen Arjen Robben.

Fast hätten wir jetzt die USA vergessen. Auf der Flucht vor dem Fußball ist uns dort über Weihnachten das „Time“-Sonderheft mit dem Jahresrückblick 2014 in die Hände gefallen, und es ist voller Fußball. Unter den gefeierten „Gesichtern des Jahres“ findet man darin Jürgen Klinsmann, den deutschen US-Nationaltrainer, und bei der Erinnerung an die WM-Rekordeinschaltquoten und die „World Cup Mania“ im Sommer wird förmlich eine US-Revolution im sportlichen Umdenken ausgerufen, wir zitieren: „Als die Bars der Nation sich füllten mit schreienden, feiernden, gesichtsbemalten Fans, war das der jähe Umkehrpunkt – diese Fußball-WM ließ unsere nationale Vergangenheit, das liebe, alte Baseball, urplötzlich aussehen wie das Spiel unserer Großväter, oder gar wie unsere Großväter selbst.“

Selbst für die traditionsbewusstesten Yankees ist der Fußball nicht mehr oval wie ein Football-Ei, sondern eine immer rundere Sache.

Carlos Alberto Parreira auf Irrwegen

Noch bedenklicher outet sich die wachsende Fußballverrücktheit anderswo. In Brasilien gab der einstige Weltmeistertrainer Carlos Alberto Parreira, der bei der WM im Sommer noch mal als Technischer Direktor auf der Bank saß, neulich zu der besorgten Frage Anlass, ob er statt eines Kopfes einen Ball auf dem Hals trägt. Er verglich nämlich das 1:7 gegen Deutschland im TV-Sender „SporTV“ gefühlsmäßig mit der Tragödie vom 11. September 2001 in New York, hören wir kurz rein: „Es war genau wie damals mit den Türmen des World Trade Centers. Du willst nicht glauben, was da passiert. Du siehst, wie der erste Turm zerstört wird. Danach der zweite. Du denkst, es ist eine Fiktion, aber es ist real. Es geht alles so schnell, es gab keine Zeit zu reagieren.“ So hat sich Parreira für die Hilflosigkeit der paralysierten brasilianischen Trainerbank entschuldigt, ohne auf die Idee zu kommen, dass man dreitausend Tote womöglich nicht mit sieben Toren in einem Atemzug nennen sollte – ungefähr genauso daneben wäre es, den Terror vom 11. September mit dem Terror des Fußballs über den Restsport zu vergleichen.

Was dem Restsport aber fraglos droht, ist ein kärgliches Dasein auf der Schattenseite der öffentlichen Wahrnehmung. Schon in der Winterpause von König Fußball wird uns das Fernsehen zur Überbrückung aus den Trainingslagern spätestens ab Mitte Januar wieder packende Testspiele der Bundesligisten gegen anatolische Prominentenmannschaften senden oder gelegentlich live übertragen, wie sich Lothar Matthäus morgens im Beisein seiner neuen Ehefrau die Socken anzieht. Damit keinem Fan auf dem Sofa vor lauter Biathlon und Eisstockschießen die Füße einschlafen, ist jederzeit auch ein Exklusivinterview mit der Rasenheizung der Allianz-Arena denkbar. „Sportschau“-Moderator Reinhold Beckmann hat die Fakten mal auf den Punkt gebracht: „Sollten noch irgendwelche Fragen offen sein, die Antwort lautet immer: Fußball.“

Der Schaum, der die wirklich wichtige Mauer markiert

Was uns Massenfans im Sport um den Schlaf bringt, ist nicht mehr das Mattenspringen in Hinterzarten, sondern das neue Freistoßspray im Fußball und die Frage: Verstößt es mit seiner leichten Entflammbarkeit gegen EU-Recht, in dem Fall gegen die Dosen-Kennzeichnungspflicht? Als das Ordnungsamt Gelsenkirchen dem Schiedsrichter Carballo mit Bußgeld drohte, weil er das Spray beim Spiel Schalke gegen Maribor ungeniert einsetzte, hat das tagelang die Welt erschüttert – selbst über den 25. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer ist weniger berichtet worden als über diesen Schaum, der die wirklich wichtige Mauer markiert, die beim Freistoß. Ähnliches Aufsehen hat letztmals der Rasierschaum erregt, mit dem sich in einem Pitralon-Werbespot in den 70ern Uwe Seeler einrieb. Oder war es Rasierwasser? Jedenfalls pfiff Uwe dazu die Melodie aus „Im Frühtau zu Berge wir zieh’n.“

Der Fußball macht die Musik. Besagtes Freistoßspray gilt inzwischen als wichtigste Errungenschaft des Jahres, Millionen Männer in aller Welt gelen sich damit morgens die Haare, und mehr denn je gilt das gesprochene Wort unseres ehemaligen Außenministers Joschka Fischer: „Fußball ist des Mannes zweitgrößtes Glück.“

Vermutlich ist es schon Ende 2015 das größte.