Deutschland blickt auf einige furchteinflößende Torwarte zurück: Toni Schumacher nietete Spieler brutal um, Oliver Kahns Steingesicht war berüchtigt. Manuel Neuer ist anders – sympathisch, knuffig und überraschend gelassen.

Stuttgart - Kann man einen Toten interviewen? Die Antwort ist ja. Plötzlich taucht die Leiche in der DFB-Pressekonferenz auf und setzt sich vor den Journalisten lachend aufs Podium – dabei war mit Manuel Neuer weiß Gott nicht mehr zu rechnen, nachdem der ZDF-Sachverständige Oliver Kahn beim Spiel gegen Algerien mit seiner spitz nach vorne geschobenen Kinnlade bissig verkündet hatte: „Das war Harakiri.“

 

Wenn ein Japaner Harakiri begeht, ist das die höchste Stufe der rituellen Selbsttötung, und die hat vor allem Kahn früher eisern vermieden. Jahrelang hat er sich als deutscher Torwart niemals aus seinem Strafraum getraut oder gar im Mittelfeld auf ein Laufduell mit einem gegnerischen Wirbelwind eingelassen, wie man es in dieser Rasanz sonst nur bei einem 100-Meter-Finale erlebt – ganz leicht, weiß Kahn, „hätte sich Neuer die Rote Karte einhandeln können“.

Der von den Toten Auferstandene sitzt jetzt jedenfalls putzmunter vor den Notizblöcken und Kameras und sagt: „Harakiri? Ich weiß, was ich riskiere, ich bin mir des Risikos bewusst – wenn ich rausgehe, darf ich keinen Schritt zu spät kommen. Aber so ist mein Spiel.“

Bester Libero seit Franz Beckenbauer

Auch gegen Frankreich wird Neuer wieder so spielen, sozusagen wie Uhu, der Alleskleber, mal Torwart, mal Verteidiger, mal Ausputzer – und immer instinktiv entscheiden, ob der Moment geeignet ist, um fluchtartig den Kasten da hinten zu verlassen „und eine Situation zu entschärfen, noch bevor ein gegnerischer Stürmer allein auf mich zuläuft“.

Manuel Neuer lebt, und auch die deutsche Mannschaft lebt noch – was vor allem an der Waghalsigkeit ihres Torwarts im Achtelfinale liegt, die im Grunde besungen gehört, am besten noch mal von Wencke Myhre und ihrer hohen Schule des Gassenhauers („Er steht im Tor, im Tor, im Tor“). Und manchmal auch weit davor.

Als „besten Libero seit Franz Beckenbauer“ lobt Bundestorwarttrainer Andy Köpke seine Nummer eins im Rahmen der Einstimmung auf das Frankreichspiel jeden Tag, vorwärts und rückwärts, zum Auswendiglernen. Und dieses Wort hat Gewicht, denn Köpke, das Reflexwunder beim EM-Sieg 1996, gehört zur Heldengalerie der deutschen Torhüter, die auch von Neuer jetzt würdig geschmückt wird – diese deutsche Eiche im Tor reiht sich nahtlos ein in die Liste der geschichtsträchtigen WM-Veteranen, beginnend bei Toni Turek, dem vom Radioreporter Herbert Zimmermann („Toni, du Fußballgott!“) angeschmachteten 54er Helden von Bern. Oder denken wir an Sepp Maiers Robinsonaden beim WM-Sieg 74, Oliver Kahns mirakulöse WM 2002 als „Faust Gottes“ und „King Kahn“ – und aus aktuellem Anlass natürlich besonders an Toni Schumacher, der im WM-Halbfinale 1982 beim „Drama von Sevilla“ nach dem Elfmeterschießen als Triumphator die Faust gen Himmel hämmerte. Es war die Pose des Helden. Aber für die Franzosen war der Held ein Strolch. Nicht nur in die Verzweiflung hat der Kölner sie damals getrieben, sondern fast in den Wahnsinn, auf jeden Fall aber in die Weißglut. „Vor 32 Jahren“, hat „Le Monde“ in Paris diese Woche ihre zu spät geborenen Leser aufgeklärt, „beging Schumacher eine Art von Attentat auf Battiston.“

Wie ein Rammbock gegen die Franzosen

Es war unerträglich schwül und heiß in jener historischen Nacht in Sevilla, und irgendwann glühte Schumacher durch. Wie unter Strom, mit gefühlten tausend Volt in der Birne, rannte er aus seinem Kasten und streckte ungefähr dort außerhalb des Strafraums, wo Neuer gegen Algerien unfassbare 21 Ballkontakte hatte, im Stil eines Rammbocks den auf ihn zustürmenden Franzosen Battiston nieder. Der verlor drei Zähne, wurde mit einem angebrochenen Halswirbel und einer Gehirnerschütterung weggetragen, und Schumacher lehnte am Pfosten, kaute Kaugummi und sagte später: „Ich zahl ihm die Jacketkronen.“ Er war im Siegesrausch tatsächlich stolz darauf, den Franzosen die Zähne gezogen zu haben. Die ganze Welt heulte auf, und „Le Quotidien de Paris“ schäumte: „Du Schwachsinniger! Was glaubst du eigentlich, wer du bist?“

Der hässliche Deutsche war zurück, der Kriegstreiber, der Unmensch – diesmal in der Uniform des Torwarts.

„Könnte Ihnen das auch passieren?“, wird jetzt Neuer gefragt. Der Lange hält kurz inne, stellt sich in Gedanken seine drohenden Ausflüge im nahenden Viertelfinale in Rio vor, beruhigt dann aber alle: „Ich hoffe nicht. Das mit Schumacher war schon eine brutale Szene. Ich will dem Gegner kein Leid zufügen.“ Angst vor einer Gewalttat Neuers müssen die Franzosen nicht haben.

Er ist anders.

Er spielt anders und tickt anders. Er hat ein eingebautes Ventil gegen den Überdruck und lässt Dampf aus dem Dampfkessel, ehe der Deckel wegfliegt. Mit seiner inneren Bierruhe widerspricht er der landläufigen Meinung, dass ein Torwart nur dann genial sein kann, wenn er gaga ist. Neuer hat keinen Sprung in der Schüssel, pinkelt während des Spiels nicht hinters Tor, rammt keine Franzosen beim Luftkampf ins Krankenhaus, hechtet im Strafraum nicht nach Tauben, verlängert seine Dribblings nicht auch noch halsbrecherisch auf die Flügel und geht auch nicht mit gestrecktem Bein auf Augenhöhe auf Gegner los, wie Olli Kahn das tat, wenn er seinen Kung-Fu-Tag hatte.

Kahns berühmtes Steingesicht

Bei Kahn hat man später gehört, dass er zur Entspannung vom Torwartstress gerne Vivaldi und Tschaikowsky hörte – vermutlich ist er, wenn er sich im Fernsehen sah, öfter mal vor sich selbst erschrocken. Das Grausamste war das Gesicht. Als Gesicht des Bösen wurde es beschrieben, und womöglich hat er sich selbst eingeredet, dass man als Torwart nur so der Ritter mit der stählernen Rüstung sein kann, an dem alles abprallt. Als den „Steingesichtigen“ hat ihn bei der WM 2002 eine Zeitung aus Dallas bestaunt, nachdem der US-Star Donovan frei vor Kahn damals wie das Kaninchen vor der Schlange erstarrte – die Szene war wie die ins echte Leben übertragene Blaupause jenes TV-Werbespots, in dem ein Elfmeterschütze, als er Kahn vor sich sieht, beim Anlauf umdreht und flüchtet.

So wird das bei Neuer nicht sein, falls es in Rio zum Shootout kommt.

Der deutsche Torwart der Gegenwart ist kein Kahn und kein loderndes Dynamitpaket wie Schumacher. Neuer ist eher einer zum Knuddeln. Auf dem DFB-Trainingsplatz in Santo André ist er der Liebling aller Zaungäste und der gelegentlich aus dem nahen Reservat vorbeikommenden Indianer, höflich und sympathisch posiert er mit ihnen beim gemeinsamen Schnappschuss, geduldig gibt er seine Autogramme – und wenn es in Rio zum Elfmeterschießen kommt, wird er die auf ihn zulaufenden Franzosen in Ruhe empfangen und nicht mit einem waffenscheinpflichtigen Fratzengesicht in die Flucht schlagen, vor dem selbst der Glöckner von Notre Dame erschrecken würde.

„Wir üben das Elfmeterschießen vorher noch ein bisschen“, verrät Neuer den Journalisten mit seiner legeren Gelassenheit, „und nach der Verlängerung mache ich mir dann Gedanken darüber, wer von den Franzosen schießen könnte und wohin.“

„Haben Sie Informationen darüber gespeichert?“, wird der Torwart gefragt.

„So ein Chip im Kopf wäre nicht schlecht“, lacht Manuel Neuer. Aber er hat ja seinen Instinkt. Der rettet notfalls ihn und die Mannschaft.

Er lebt, und das ist wichtig.